Die Ernaux-Verfilmung "L’évènement" von Audrey Diwan wurde gerade in Venedig präsentiert.

Foto: Filmfestspiele Venedig

Aus jedem wichtigen oder schmerzlichen Ereignis ihres Lebens hat Annie Ernaux bisher ein Buch gemacht. Auch wenn die literarische Kritik sie inzwischen zum weiblichen Proust verklärt (Der Spiegel) und das unscheinbare normannische Yvetot programmatisch Combray gegenübersteht, war der Grande Dame der französischen Gegenwartsliteratur, der Ethnologin ihrer selbst, wie sie sich nennt, im deutschsprachigen Rezeptionsraum lange ein eher trauriges Schicksal beschieden.

Während sie in Frankreich als Bestsellerautorin schon lange zum Standardrepertoire gehört und seit 50 Jahren mit Preisen für ihre autofiktionalen Romane im Grenzgebiet von Literatur, Soziologie und Zeitgeschichte ausgezeichnet wird, blieb sie hierzulande weitgehend unbekannt. Erst nach ihrem großen internationalen Erfolg von Les années (2008) und dem Hype um Didier Eribons Rückkehr nach Reims (2009, deutsch 2016) und seiner ausdrücklichen Berufung auf Annie Ernaux entschloss sich der Suhrkamp-Verlag mit neunjähriger Verspätung, Les années zu übersetzen und herauszubringen und danach mit zum Teil 40-jähriger Verspätung weitere ihrer Bücher, sehr schön ediert, zu veröffentlichen.

Nach Die Jahre (2017) und Erinnerung eines Mädchens (2018), ihrem bislang letzten Buch, erschien quasi jährlich eines ihrer früheren Bücher: Der Platz (2019), Eine Frau (2019), Die Scham (2020) und jetzt Anfang September 2021 Das Ereignis.

Schonungslos aufrichtig

Ihre beiden Meisterwerke Der Platz, die Geschichte ihres Vaters, und Eine Frau, die Geschichte ihrer Mutter, sowie Se perdre(Sich verlieren), der Roman einer sexuellen Obsession, waren zwar in den 1990er-Jahren schon bei S. Fischer bzw. Goldmann erschienen, aber in einer Aufmachung mit dem Hautgout der Trivialliteratur und blieben so weitgehend unbekannt. Auch die Frauenbewegung nahm unerklärlicherweise ihre Bücher nicht zur Kenntnis, denn man hätte dieser wichtigen Autorin eine frühere Resonanz beim deutschsprachigen Publikum gewünscht.

Wenn der Suhrkamp-Verlag sich nun entschlossen hat, das im Jahre 2000 im Original erschienene Événement auf Deutsch herauszubringen, und nicht etwa das viel berührendere Je ne suis pas sortie de ma nuit über die Demenzerkrankung ihrer Mutter oder den Brief an ihre mit sechs Jahren verstorbene kleine große Schwester, von deren Existenz sie lange keine Ahnung hatte (L’autre fille), so hängt das sicher auch mit der Natur des Ereignisses, einer heimlichen Abtreibung im Jahre 1963 als junge Studentin, zusammen: Es sind gerade 50 Jahre seit Alice Schwarzers Stern-Aktion mit 375 Frauen, die auf dem Titelbild, nach dem Beispiel einer Kampagne des Nouvel Observateur, bekannten: "Wir haben abgetrieben!" Und, wie Ereignisse in Polen und anderswo wieder zeigen und Alice Schwarzer im Juni dieses Jahres im Spiegel appellierte: "Liebe junge Frauen, das Recht auf Abtreibung ist noch lange nicht gesichert."

Schon der allererste Roman von Annie Ernaux, Les armoires vides ("die leeren Schränke") von 1974, beginnt mit der drastischen Schilderung dieses traumatischen Ereignisses im Leben der Autorin. Seither umkreist sie dieses Événement in fast jedem ihrer Werke, bis sie sich ihm im Jahre 2000, mit 60 Jahren stellt.

Auch dieses Buch ist wieder eine schonungslos aufrichtige Schilderung, eine äußerst schmerzhafte Recherche, mit der sie in die verborgensten Winkel ihrer selbst vordringt. "Seit Jahren kreise ich um dieses Ereignis meines Lebens. Wenn ich in einem Roman die Schilderung einer Abtreibung lese, stürzt mich das in eine Erstarrung ohne Bilder oder Gedanken, als ob die Worte sich sofort in eine heftige Empfindung verwandelten. Genauso erschüttert es mich, wenn ich zufällig La javanaise, J’ai la mémoire quiflanche oder irgend ein anderes Chanson höre, das mich in dieser Zeit begleitet hat."

Erinnerung anhand von Chansons, Fotografien, Filmtiteln und -plakaten, Werbeslogans und gängigen Redensarten aufzuspüren ist gewissermaßen ihr Markenzeichen geworden. Es ist gerade die vielzitierte Lakonie und Nüchternheit ihrer Sprache, die die Begleitung dieses jungen Mädchens, das allein und verzweifelt durch Paris und Rouen irrt, mit der blutenden Sonde einer abstoßenden Engelmacherin im Bauch, so anrührend macht.

Der Paragraf 218 – in Frankreich das Gesetz von 1920 – bestimmt die öffentliche Moral, kriminalisiert die Frauen, aber auch die Ärzte, denen er jede Hilfeleistung verbietet. Es herrschen Heuchelei, Verlogenheit und frauenverachtender Zynismus, das Liebesleben wird von Knaus-Ogino, Coitus interruptus und der ständigen Angst vor ungewollter Schwangerschaft bestimmt. Nicht zu vergessen: die Kontrolle der Unterwäsche im ländlich-kleinbürgerlichen Elternhaus der Autorin. Auf dem Land gibt es zwei Ereignisse, die zu Stigmatisierung führen: ungewollte Schwangerschaft und Alkoholismus, beides Embleme der Armut.

Erinnerungsreise, Exploration

Für die Autorin, die über die höhere Schule und ein Studium den, auch von den Eltern gewünschten, sozialen Aufstieg schon ein gutes Stück geschafft hat, stellt mit ihrer Schwangerschaft gerade diesen wieder infrage. Die Diagnose Schwangerschaft zieht ihr den Boden unter den Füßen weg: Sie hat niemanden, dem sie sich anvertrauen könnte, weder Geld noch eine hilfreiche Adresse, der "Verursacher" ihres Zustandes ist ein Totalausfall, ebenso hilflos wie sie selbst.

Sie ist völlig orientierungslos, in einem Grenzzustand, in dem sie weder historisches Geschehen wie zum Beispiel die Ermordung Kennedys wahrnimmt noch Interesse für ihre Seminararbeit über das Bild der Frau im Surrealismus als Verbindung zwischen dem Mann und dem Kosmos aufbringen kann.

Zeit und Raum haben sich für sie aufgelöst, sie wandelt durch Nebelland, hält sich an literarischen Klischees fest, wähnt sich jenseits von Gut und Böse oder auf einer Reise ans Ende der Nacht. Sie identifiziert sich mit dem Schicksal der damals berühmten singenden Nonne Sœur Sourire, die später Selbstmord begeht und deren Liedrefrain "Dominique nique nique" sie auf ihren endlosen Wanderungen durch die Straßen auf der Suche nach einem Zeichen, einer hilfreichen Adresse begleitet. Dass "niquer" eigentlich eine obszöne Bedeutung hat, ist eine zusätzliche Pointe, von der weder die schwangere Studentin noch die singende Klosterfrau etwas zu ahnen scheinen.

Annie Ernaux sieht sich selbst "in einer langen Reihe von aus der Gesellschaft ausgestoßenen Frauen, die trotz aller Unterschiede in mir eine unsichtbare Kette bilden, aus Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Romanheldinnen und Frauen meiner Kindheit. Ich glaube, dass meine Geschichte auch in ihnen ist." Indem sie sie aufzuschreiben beginnt, setzt sich die Zeit in Bewegung und zieht sie mit sich fort.

Annie Ernaux, "Das Ereignis".
Aus dem Französischen von Sonja Finck.
€ 18,50 / 104 Seiten.
Suhrkamp- Verlag, 2021

Ihre Erinnerungsreise zu diesem entscheidenden Ereignis ihrer Jugend bezeichnet sie selbst als Exploration, die sie mit der gleichen Zielstrebigkeit und Hartnäckigkeit vornehmen will, wie sie damals ihren Mutterschaftspass zerrissen hat. Sie nimmt sich vor, mithilfe ihres alten Tagebuches und ihres Terminkalenders wie ins Inferno in jedes evozierte Bild hinabzusteigen, bis sich die physische Reaktion einstellt, es erreicht zu haben, und dann Wörter aufsteigen, von denen sie sagen kann: Das ist es.

Sie will jeden einzelnen der Sätze, die sie damals mit Trost oder Ekel begleitet und die sich unauslöschlich in sie eingegraben haben, wieder hören, um genau diese Empfindungen wiederzufinden. Das hat schon etwas von Prousts Madeleine, auch ohne Lindenblütentee.

Die große Kunst von Annie Ernaux besteht darin, dass sie durch die Intensität ihrer Darstellung auch uns ähnliche Zeitreisen ins eigene Leben ermöglicht. (ALBUM, Barbara Machui, 12.9.2021)