Die Hauptperson ist nach wenigen Seiten tot. Was anschließend auf 460 Seiten erzählt wird, sind "atmende Seiten". Kurz: Es ist Literatur. Nicht zuletzt der Roman Brooklyn soll mein Name sein des Spaniers Eduardo Lago selbst. Für den es im Jahr 2005 zwei der bedeutendsten spanischen Literaturpreise gab. Dabei war es Lagos Romandebüt. Im stattlichen Alter von 50.

Die Oakland Bar, Atlantic Avenue, Brooklyn, New York, USA. Ort abgestürzter Existenzen und anderer Randständiger. Auf einem Barhocker an der Theke die puerto-ricanische Kellnerin, die einen Telefonhörer in der Hand hält, dessen eigentlich spiraliges Kabel – wir sind im Jänner 1990 – schnurgerade ist. Die Tanzfläche dunkel, links der Billardsaal, das wie ein in Neonlicht getauchtes Aquarium aussieht. Hinter der Registrierkasse Raúl, Waise, 1,40 Meter kurz, der Buchhalter. Es fehlt: der alte Albino aus Dänemark, der üblicherweise den Erzählungen eines Kubaners lauscht, als Scherz die Musicbox auf maximale Lautstärke stellt und als geistesverwirrt gilt. Der Tisch des Kapitäns ist die Kommandobrücke. An ihm sitzt Gal Ackerman. Und schreibt. Er schreibt, er notiert unablässig. Er arbeitet an einem Lebensroman, seinem Brooklyn-Roman. Der Titel: "Brooklyn soll mein Name sein". Das Manuskript schließt Ackerman nicht ab. Das Riesenfragment, zwei Jahre später zum Buch montiert, besteht aus zahllosen Einträgen, biografischen, autobiografischen, topografischen Aufzeichnungen über Politik, Sehnsucht, Träume, Zeit, Leidenschaft, Liebe. Vor allem Letztere sind in diesem artistischen Roman von eminenter Bedeutung. Denn seine große Liebe entzog sich Ackerman, bis sie ganz entschwand. Und dann doch, 20 Jahre später, mysteriös gedoppelt, als Brooklyn wiederkehrt.

Klarheit und Trunkenheit

Geschichten und Erzählrätsel greifen in diesem formal virtuosen, vielstimmigen, multiplen Werk – Lago ist ausgewiesener James-Joyce-Kenner – wie Glieder einer labyrinthisch langen Kette ineinander und spinnen sich, scheint es, von selbst weiter, in alle Richtungen, in die Historie des 20. Jahrhunderts, aufs Meer, zu Abenteuern, in psychologische Tiefen. In Spiegelkabinette. Ins Chelsea Hotel. Zu Passionen und Amouren.

Eduardo Lago, "Brooklyn soll mein Name sein". Übersetzt von Guillermo Aparicio. € 25,70 / 464 Seiten.
Kröner, Edition Klöpfer, Stuttgart 2021

An einer Stelle heißt es, eine Figur sei an einem Punkt angelangt, "der genau zwischen Klarheit und Trunkenheit lag. Der Pegel des Wodkas" im Glas "schien die Grenze zwischen den zwei Zuständen zu markieren". In einem anderen Bild bringt Lago, heute 67 Jahre und seit 1987 in New York ansässig, für das Instituto Cervantes in New York tätig und als Professor für Literatur am Sarah Lawrence College im Westchester County, die Essenz des Romans zum Ausdruck. "Die Glasscheiben", heißt es da, "haben sich noch ein paar Sekunden lang weitergedreht, und als sie endlich zum Stillstand kamen, gewahrte ich eine Silhouette, die sich in ihnen spiegelte. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu bemerken, dass dieser verlorene Fleck im Gaukelspiel der Tanzflächenlichter ich selbst war, und wenn nicht Álida gerade in diesem Moment nach mir gerufen hätte, wäre es mir unmöglich gewesen zu sagen, in welchem Raum-Zeit-Kontinuum ich mich gerade befand."

Eine fulminant "verwilderte" Ode, ein kaleidoskopischer Lobgesang auf Macht und Übermacht des Schreibens und identitätsstiftenden, zeitaufhebenden Erzählens ist dieser Roman, voller Anspielungen, Zitate, Verfremdungen und Binnenverweise innerhalb von Binnenreferenzen. So schrieb Gal Ackermans Großvater David einst Kolumnen für die lokale Zeitung Brooklyn Eagle, bei der er sich vom Hilfsarbeiter bis zum Chefsetzer hochgedient hatte, und war lebenslang Anarchist. Auch radikale Politik und der Spanische Bürgerkrieg spielen eine Rolle. Eine schicksalhafte Begegnung, mündlich dargeboten, findet im toskanischen Certaldo statt. Bekanntlich lebte, starb und ist dort Giovanni Boccaccio begraben, das nahe gelegene Castello ist angeblich der Schauplatz von dessen Decamerone.

Hochliteratur-Literatur

Eduardo Lago ist nicht nur befreundet mit dem 1948 geborenen, in Barcelona lebenden Autor Enrique Vila-Matas, er hat mit diesem auch den "Order of Finnegans" gegründet, eine literarische Sozietät im Geiste Joyces. Vila-Matas seinerseits hat Literaturpuzzles zu Papier gebracht, so etwa mit Dublinesk ein Fluss-Beckett-Joyce-Pasticcio. Beide, Lago wie Vila-Matas, schreiben metafiktionale Hochliteratur-Literatur. Allerdings ohne postmoderne Leere, vielmehr mit existenzieller Extravaganz: "Das Oakland bildete einen Kristallisationspunkt, an dem alle, die um ihn kreisten, am Ende zerschellten." Steht zu hoffen, dass der Kröner-Verlag, dem (und Gabriele Haefs) die Entdeckung des außergewöhnlichen irischen Erzählers Mairtin O’Cadhain zu danken ist, die zwei anderen Erzählwerke Lagos, Ladrón de mapas ("Der Kartendieb") und Siempre supe que volvería a verte, Aurora Lee ("Ich habe immer gewusst, dass ich dich wiedersehen würde, Aurora Lee"), auch übersetzen lässt. (ALBUM, Alexander Kluy, 11.9.2021)