Robert Habecks Auftritt beginnt mit Gejohle und mit einem Überraschungsmoment. "Stopp", ruft ein Ordner und breitet seine Arme vor dem Obergrünen aus, kein Durchkommen in den abgesperrten Bereich. Gebannte Blicke rundherum, manche lachen. Habeck bleibt stumm stehen, seine Augen werden schmal, schaut er fies, lächelt er? Sekunden vergehen. Dann erkennt der Ordner den Grünen-Chef, dessen Gesicht eine weiße FFP2-Maske bedeckt, schiebt sich zur Seite und sagt betreten: "Ich mache nur meine Arbeit."

Als Habeck dann auf die kleine Bühne im Rosenheimer Mangfallpark klettert, beginnt er mit eine Art Liebeserklärung an die Bayern. Rosenheim und seine Heimatstadt Flensburg, das seien so in etwa die am weitesten entfernten Orte in Deutschland, sagt er. Erst 2018 sei er erstmals in den Süden gekommen, mit "Muffensausen", weil er doch ein "Fischkopp" sei. Aber dann: lauter gute Erfahrungen, Bierzeltrede geglückt, beim Almabtrieb war er eingeladen und habe dann mit Bauern prima diskutiert, obwohl er sie schwer verstanden habe.

Robert Habeck tourt derzeit durch deutsche Städte.
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"Annalena und ich"

Habeck entfaltet sein besonderes Talent an diesem dampfig heißen Spätsommertag am Alpenrand: Komplexe Themen verständlich aufdröseln, Zusammenhänge aufzeigen, Kritik im Sowohl-als-auch-Modus äußern, dabei hemdsärmelig formulieren. So lobt er Angela Merkel, spricht ihr "persönliche Wertschätzung" aus, hält ihr gleichzeitig vor, "Luschen" auf Ministerposten geholt zu haben. Habeck spricht von einer Ära der Politik, in der "Antworten verweigert wurden und erst immer dann agiert wird, wenn Krisen eskaliert werden". Armin Laschet und Olaf Scholz, die Kanzlerkandidaten von Union und SPD, wollten damit weitermachen, behauptet Habeck.

Er wirbt für eine Politik, die in Teilen "radikal" anders ist, keine halben Sachen. Für zurückhaltendes Regieren, wie es die österreichische Schwesterpartei mit der türkisen ÖVP des Sebastian Kurz praktiziert, scheint Habeck nichts übrig zu haben. Radikal anders, nicht nur beim Klimaschutz und der Landwirtschaft, sondern auch im Umgang miteinander. "Annalena und ich", sagt Habeck und nennt erstmals seine Co-Vorsitzende und Kanzlerkandidatin beim Namen, "Annalena und ich" wollten einen Umgang, in dem man politischen Mitbewerbern auch Erfolge "gönnen können" soll. Wenn andere bessere Ideen haben, warum sollte man das nicht anerkennen, sagt er. Aber die Ideen müssten auch wirklich besser sein.

Wenig Interesse

Beim Publikum kommen solche Sätze bestens an, immer wieder brandet Applaus auf. Habecks Stimmung ist seiner Mimik zufolge nicht ganz so euphorisch, besonders viele Leute sind nämlich nicht gekommen: Die Polizei spricht von etwa 300 Personen, um den Platz vor der kleinen Bühne könnten sich mehr als 1.000 Menschen scharen – Corona-bedingte Abstände eingerechnet. Immerhin: Diejenigen Bayern, die da sind, wirken begeistert.

Das Bild passt zur aktuellen Lage der deutschen Grünen: viel Potenzial, aber nur der motivierte Teil kann abgerufen werden. Im April war das noch anders, da legte die Partei einen formidablen Start ihrer Kampagne hin. Habeck wollte Kanzlerkandidat werden, steckte aber zurück für seine Co-Vorsitzende Baerbock. Mit der 40-Jährigen als Frontfrau überflügelte die Partei bald die Union, doch das Hoch währte nur kurz. Baerbocks allzu optimierter Lebenslauf, offenkundige Plagiate in einem gemeinsam mit einem Schriftsteller verfassten Buch, kontraproduktives Krisenmanagement und eine von Springer-Medien genüsslich geführte Kampagne ließen die Umfragewerte der Grünen erodieren.

Kanzleramt kein Thema mehr

Mitte August überholte die bis dahin gefühlt semikomatöse SPD die grüne Partei, die in den jüngsten Erhebungen auf Platz drei unter 20 Prozent dümpelt. Den Kampf ums Kanzleramt hat die Partei augenscheinlich aufgegeben, aber offen diskutiert wird nicht darüber.

Habeck redet 37 Minuten frei, vor ihm spricht Claudia Roth mit einem Stapel Kärtchen. Sie sei "Vorband", witzelt die frühere Parteichefin und amtierende Vizepräsidentin des Bundestags. Weder Roth noch ihr Nachfolger thematisieren die Kanzlerkandidatur Annalena Baerbocks. Je länger die Veranstaltung dauert, desto deutlicher werden die Umrisse dieses Elefanten, der im Mangfallpark grast, aber den die grünen Stars ignorieren.

Die Basis allerdings beschäftigt die K-Frage schon. Niemand will Baerbock kritisieren, aber es gibt Kopfschütteln über "handwerkliche Fehler" und die Frage, wo die Partei mit einem Spitzenkandidat Habeck stünde.

Ans Ende seiner Rede stellt Habeck den Freiheitsbegriff, wie das FDP-Chef Christian Lindner auch gerne macht, allerdings klingt der Grüne anders als der Liberale: "Die behauptete Gegensätzlichkeit von Regeln und Freiheit ist Bullshit", ruft er und verweist auf die Straßenverkehrsordnung. Wichtig sei in einer Demokratie, dass man immer wieder Regeln prüfe und justiere.

Dann ist Habeck fertig, Schweiß durchwirkt sein weißes Hemd. Viele Menschen im Publikum lächeln versonnen, Habeck wirkt gestresst. Er muss gleich los, ins Allgäu, noch so ein Stück Bilderbuchbayern. Ein Fernsehteam stellt ihm noch schnell eine Frage nach möglichen Koalitionen mit der FDP oder der Linkspartei: "Was ist Ihnen lieber", fragt der Reporter, "Lindner oder Wagenknecht?" Habeck schaut, als ob jemand in sein Fischbrötchen gebissen hätte, und zischt: "Baerbock!" (Oliver Das Gupta, 10.9.2021)