Ich war ahnungslos", sagt Kevin Keaveny über die letzte Autofahrt vor dem Ereignis, das sein Leben für immer verändern sollte. Bei strahlend blauem Himmel fuhr er quer über Staten Island zu seiner Arbeit als IT-Experte. Die gute Stimmung änderte sich bei seiner Ankunft im Büro schlagartig: Seine Kollegen starrten schweigend auf den Fernseher. Keaveny war klar, dass etwas Schreckliches passiert war – und dass er gebraucht wurde. Er war ein Militär, Nationalgardist in Reserve. Ein Mann, der sich seit Jahren auf den Ernstfall vorbereitete.

In der Zeit, die Kevin Keaveny benötigte, um bis zum Sammelpunkt für Reservisten am Fährhafen zu gelangen, sprangen im gegenüberliegenden Manhattan verzweifelte Menschen, die im Nordturm in Büroräumen im 94. Stock und darüber gefangen waren, in die Tiefe. Kevin Keaveny legte seine zivile Kleidung ab und die Uniform an. Um neun Uhr und drei Minuten raste ein zweites Passagierflugzeug in den Südturm. Damit wurde es auch für Keaveny zur Gewissheit: Es war ein Terroranschlag.

Kevin Keaveny: "Ich war sehr lange sehr wütend. Jetzt bin ich traurig."
Foto: Dorothea Hahn

Während seiner militärischen Ausbildung war Keaveny darauf trainiert worden, auf Angriffe von Armeen feindlicher Nationen zu reagieren. Auf einen "feigen Angriff" wie diesen war er nicht vorbereitet.

Zwei Jahrzehnte später sagt er: "Ich bin immer noch wütend." Dann korrigiert er sich: "Ich war sehr lange sehr wütend. Jetzt bin ich traurig." Er steht auf dem Platz, wo bis zum 11. September 2001 die Zwillingstürme standen. 28 Jahre lang waren sie die höchsten Gebäude der Welt und ein Wahrzeichen seiner Stadt. Ihre Höhe entsprach dem Optimismus der New Yorker sowie ihrer ungetrübten Überzeugung, dass für sie alles möglich ist.

Bei der Einweihung der Zwillingstürme 1973 stand Kevin Keaveny kurz vor der Einschulung. Als sie einstürzten, war er Vater dreier Söhne. Heute ist er 52 Jahre alt und hat vier Kinder. Ein kräftiger Mann mit breiten Schultern, der über sich sagt: "Ich albere gern herum." Doch als er mit der Hand den schwarzen Stein berührt, in den die Namen der 2977 Menschen eingetragen sind, die am 11. September 2001 in New York, Washington und Shanksville, Pennsylvania ums Leben kamen, schreckt er zurück, als fasse er ein glühendes Eisen an. In den vergangenen 20 Jahren ist es erst das zweite Mal, dass er sich an diesen Ort traut. Beim ersten Mal – das war im Herbst 2020 – ließ er seinen Tränen freien Lauf.

Ersthelfer, Chaos, Heldentum

Das große Areal zwischen Church Street im Osten, Liberty Street im Süden, Fulton Street im Norden und der Schnellstraße entlang des Hudson-Flusses im Westen, auf dem einst die Zwillingstürme standen, ist nicht wiederzuerkennen. Bei Ersthelfern wie Kevin Keaveny hieß es "the pit" – das Loch. In den ersten Stunden nach den Attentaten trafen an dem Loch Verzweiflung, Chaos und Ratlosigkeit auf Widerstandswillen, Optimismus und Heldentum. Zivilisten erlebten erstmals ungefiltert, dass ihr Land Feinde hatte. Sie stellten die Frage: "Wieso hassen sie uns?" Militärs wie Kevin Keaveny mussten feststellen, dass es "arrogant" gewesen war, sich für unbesiegbar zu halten.

Später wurde das Loch der Ausgangspunkt für Rachepläne, die zum längsten Krieg in der US-Geschichte führten, der erst jetzt, mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan, zu einem Ende kam. Irgendwann erhielt der Ort den militärischen Namen, bei dem es geblieben ist: "Ground Zero". Bodennullpunkt – als begänne dort eine neue Zeitrechnung.

Mit dem Ende der Bergungsarbeiten und nachdem Lastkähne tausende Tonnen von Stahl- und Zementschutt auf Halden in Staten Island und New Jersey transportiert hatten, begann 2002 der Streit über die künftige Nutzung von Ground Zero. Die Ideen für die Neugestaltung reichten von einem Gedächtnispark ohne Gewerbe- und Wohnfläche bis hin zu dem identischen Nachbau der Zwillingstürme. Am Ende des Tauziehens setzten sich Projekte von Stararchitekten durch. Sie entwarfen einen Stadtteil von Superlativen und Symbolen, aus dem alles Alte verschwunden ist und in dem zugleich alles daran erinnert. Das Areal ist eine Gedenkstätte für die Toten, aber lebendiger als zuvor. Vor 9/11 gab es hier nur Büroraum, jetzt gibt es gemischte Nutzung. Auch abends und an Wochenenden pulsiert das Leben rund um Ground Zero. Lebten hier früher 33.000 Menschen, so sind es heute doppelt so viele.

David Childs entwarf den neuen höchsten Wolkenkratzer der Stadt, das One World Trade Center, dessen Höhe – 1776 Fuß, Antenne inklusive – auf das Jahr der Unabhängigkeit der USA anspielt. Von Daniel Libeskind stammt das 9/11-Museum, das tief in die Erde gegraben ist und bis zur Pandemie alljährlich drei Millionen Besucher anlockte. Der Architekt Michael Arad ist der Schöpfer der beiden viereckigen Brunnen, die den Grundrissen der Zwillingstürme folgen. "Reflecting Absence" heißen die Memorial-Becken, auf deren Rändern die Namen der Opfer zu lesen sind.

"Sie sind schön", sagt Kevin Keaveny über die Memorial-Becken. Aber er hält es nicht lange in ihrer Nähe aus. "Zu emotional."

Im Herbst 2001 ist er zu keiner der Beerdigungen von Ersthelfern gegangen.

In das 9/11-Museum, wo nonstop die letzten Telefonnachrichten der in den Türmen eingesperrten Menschen über Lautsprecher laufen, zieht ihn schon gar nichts. Der 11. September ist jedes Jahr "ein schlechter Tag" für ihn. Er bleibt allein zu Hause und hört zu, wie die Namen der Opfer verlesen werden.

Für Kevin Keaveny begann am 11. September 2001 ein neues Kapitel in seinem Leben. In seinen ersten Stunden in Manhattan rief er seine Frau in Staten Island an und drängte sie, New York City umgehend zu verlassen: "Niemand wusste, was als Nächstes passieren würde." Wenige Monate später zog die Familie aufs Land. Wie tausende andere New Yorker wollten die Keavenys keine Zielscheibe sein.

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Nach den Attentaten auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001 herrschte weltweit Fassungslosigkeit. An dem Tag starben fast 3000 Menschen, darunter viele Ersthelfer.
Foto: AFP / Getty Images

Dem giftigen Staub und den Gasen, die er in seinen Wochen bei den Rettungsarbeiten am "Loch" einatmete, konnte Kevin Keaveny nicht entkommen. Er erkrankte "an dem üblichen Zeug". Bei ihm traf es die Lungen und die Nebenhöhlen. Von den Ersthelfern, die fast ohne Schutz den zermalmten Resten von krebserregenden Stoffen wie Asbest, Glasfaser, Dioxinen, Blei und Schwefelsäuren ausgesetzt waren, sind in den letzten 20 Jahren mehr als 2000 an den Folgen gestorben.

Nach dem Katastropheneinsatz driftete Kevin Keaveny beruflich ab. In schneller Folge wechselte er Jobs. Entlassungen kam er zuvor, indem er selbst kündigte. 2005 beendete er seinen Reservistendienst. Aber er war nicht fertig mit dem Militär. Als sich sein ältester Sohn verpflichtete und im Jahr 2007 nach Afghanistan ging, betrachtete der Vater das einerseits als Bestätigung seiner "Erziehung durch das Vorbild", andererseits als Ansporn für sich selbst. Er meldete sich ebenfalls für einen Kriegseinsatz: Im Alter von fast 40 Jahren wurde Keaveny als Mörsermann in der Region von Baghram nördlich von Kabul eingesetzt, wo er acht Monate lang gegen die Taliban kämpfte.

Sein Einsatz endete mit einer Knieverletzung, die er sich jedoch nicht im Kampf zugezogen hatte. "Es war das Alter", sagt er. Seinen Kriegseinsatz in Afghanistan betrachtet Kevin Keaveny als Erfolg. Er ist glücklich, dass die Truppen abgezogen sind. Und er wäre froh gewesen, wenn die USA "alle" herausgeholt hätten. Aber wenn er in diesen Tagen hört, was Politiker und Ex-Generäle über einen "enttäuschenden Kriegsausgang" sagen, schüttelt er missbilligend den Kopf. "Sie sind Politiker, sie reden. Wir haben unsere Arbeit getan." Auf seinem rechten Oberarm sind zwei Worte eintätowiert, die in den Tagen und Wochen nach dem 11. September 2001 über Trümmerhaufen und an zahlreichen Fassaden in New York wehten: "Never forget", "Vergiss nie".

Eine neue Mission

Nach seiner Rückkehr in das zivile Leben verlor Kevin Keaveny den Boden unter den Füßen. 2013 rief er die Hotline für selbstmordgefährdete Veteranen an. Es war ein weiterer Wendepunkt für ihn.

Seither hat Keaveny eine neue Mission. Er wurde ein hauptberuflicher Veteran, begann eine Therapie, studierte Sozialarbeit und baute ein Holzboot. Während er sich aufrappelte und sein Leben in den Griff bekam, erkannte er, wie groß das Problem der mangelnden Traumabewältigung ist. Unter den Veteranen werden erhöhte Zahlen von Obdachlosigkeit und Drogenabhängigkeit verzeichnet, die Selbstmordrate in ihren Reihen ist höher als die Todesfälle von US-Soldaten an den Fronten.

Um anderen ehemaligen Soldaten den schwierigen Übergang in das zivile Leben zu erleichtern, gründete Keaveny die Gruppe "Hudson Valley Center for Veteran Reintegration". Er berät die Veteranen, baut Boote mit ihnen, macht Lobbyarbeit für sie: "Damit uns die 99 Prozent, die keine Veteranen sind, nicht vergessen."

Derzeit erhält er mehr Hilferufe als gewöhnlich. Denn während mit dem Truppenabzug aus Afghanistan für die USA ein Kapitel zu Ende geht, das am 11. September begonnen hat, tobt für viele heimgekehrten Kämpfer der Krieg in ihrem Inneren weiter.

"Warum zur Hölle sind wir da überhaupt hingegangen?", fragen sie. "Was war der Sinn des Ganzen?" (Dorothea Hahn, 11.9.2021)