Wenn die von Konsumenten empfundenen Preissteigerungen die offiziell ausgewiesene Inflation übertreffen, liegen sie tendenziell richtig.

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Liegt die Wahrheit im Auge des Betrachters – oder doch in jenem Zahlenwerk, das die offizielle Inflationsrate eines Landes wiedergibt? Zur Euro-Einführung Anfang des Jahrtausends wurde die neue Währung im Volksmund schnell zum Teuro. In der niedrigen ausgewiesenen Teuerung war davon nichts zu merken. Trotzdem standen einigen Verbrauchern, die Euro-Preise noch in Schilling oder D-Mark umrechneten, damals die Haare zu Berge. Wie auch immer, es war ein Sturm im Wasserglas, die Aufregung sollte sich bald wieder legen.

Dennoch ist es eine Tatsache, dass die sogenannte gefühlte Inflation, also das von Konsumenten empfundene Ausmaß der Teuerung, deutlich höher ausfällt als der offiziell ausgewiesene Preisauftrieb. Dies wurde oft untersucht, in Befragungen kann diese Abweichung einige Prozentpunkte betragen. Wurde die Inflation, derzeit mit 3,1 Prozent in Österreich und 3,9 Prozent in Deutschland ohnedies recht hoch, seit vielen Jahren tendenziell zu tief ausgewiesen? Kann das sein?

Alltag zählt stärker

Teilweise sind Abweichungen in der Wahrnehmung darauf zurückzuführen, dass Menschen dazu neigen, den regelmäßigen Alltagskonsum starker zu gewichten als seltene Anschaffungen. Und genau in diesen Bereichen hat es Ingolf Böttcher von der Statistik Austria zufolge zuletzt überdurchschnittliche Preiszuwächse gegeben. Er nennt etwa Nahrungsmittel, Treibstoffe, Wohnkosten oder die Gastronomie. Im Gegenzug würden die seltener anfallenden Kosten für Elektronik, Möbel oder Flugreisen sinken, was weniger stark wahrgenommen werde.

Dazu kommen die oftmals unterschiedlichen Ausgabenstrukturen von Haushalten, die trotzdem in der offiziellen Inflation mittels eines Durchschnittswarenkorbs abgebildet werden. Ob in der Stadt oder auf dem Land, ob Autofahrer oder Öffinutzer, ob wohlhabend oder nicht – allein diese Faktoren beeinflussen die persönliche Inflation stark. "Es ist ein Durchschnitt, in dem sich manche nicht wiederfinden", sagt Böttcher über die Zusammensetzung des Warenkorbs, anhand dessen die offizielle Teuerung berechnet wird.

Ist die hohe gefühlte Inflation also nur eine Täuschung? Keineswegs. Es gibt auch statistische Methoden, die zu Abweichungen führen, etwa wenn sich an der Qualität eines Produkts etwas ändert. "Qualitätsanpassungen sind notwendig, weil wir Gleiches mit Gleichem vergleichen müssen", betont Böttcher.

Preisabschlag für Leistungsplus

Er erklärt dies anhand folgenden Beispiels: Wenn ein bestimmtes Auto im Warenkorb zwar noch gleich viel koste, nun aber über 120 statt zuvor 100 PS verfüge, sei dies ein Qualitätszuwachs. Diesen bildet die Inflationsberechnung dadurch ab, dass vom Verkaufspreis etwas abgezogen wird. Das passiert auch, wenn Computer oder Smartphones leistungsstärker werden oder Kühlschränke energieeffizienter. Allein, der Konsument muss den vollen Betrag auf den Tisch legen und nimmt dies natürlich auch so wahr.

Diese als Hedonik bezeichnete Methode wird Böttcher zufolge nur bei etwa einem Prozent der Produkte angewandt. Zudem gilt dies auch bei einer Verschlechterung der Qualität. Wird die Verpackungsgröße verkleinert, erfolgt ein entsprechender Preisaufschlag. Allerdings stoßen Statistiker an ihre Grenzen, wenn es um die Verringerung der Produktlebensdauer geht – etwa dadurch, dass minderwertigere Materialien verbaut werden. Böttcher kennt das Problem: Man müsse sich dabei auf die Verbraucher verlassen. Sobald diese ein solches Produkt nicht mehr kaufen, fällt es aus dem Warenkorb.

Blinder Fleck

Auch bei den Wohnkosten gibt es einen blinden Fleck in der Inflationsberechnung. Im Gegensatz zu Mieten fließen die Kosten für Anschaffung und Reparaturen von selbst genutzten Eigentumswohnungen nicht in die Statistik ein. Das soll sich aber ändern, betont Böttcher. Es gebe Bestrebungen, auch in der Europäischen Zentralbank (EZB), die Kosten für eigentümergenutztes Wohnen entsprechend zu gewichten. Schließlich ist es auch die Nullzinspolitik der EZB, die den Höhenflug der Immobilienpreise, also der Anschaffungskosten, nährt.

Wie stark dieser Effekt ausfallen kann, hat der Ökonom Günther Schnabl der Universität Leipzig im Vorjahr für Deutschland ausgerechnet: Bei entsprechender Gewichtung der Wohnkosten bei Eigentümernutzung wäre die offizielle Inflation seit 2012 im Mittel um jeweils einen halben Prozentpunkt höher ausgefallen. Einen Nutznießer dessen glaubt Schnabl, der die Inflationsberechnung generell kritisch sieht, zu kennen: "Unbestritten ist, dass die niedrige gemessene Inflation eine wichtige Legitimation für die ultralockere Geldpolitik der EZB ist, die inzwischen maßgeblich zur Finanzierung von Staatsausgaben im Euroraum beiträgt."

Europäischer Wert tiefer

Die EZB orientiert ihre Geldpolitik nicht an den nationalen Verbraucherpreisen, sondern zieht dafür einen für alle Euroländer gleich berechneten Index, den HVPI, heran. Dessen Inflation für Österreich liegt meist unter der heimischen Berechnung. Warum? Das erklärt Statistik-Austria-Experte Böttcher damit, dass etwa Wohnkosten im nationalen Warenkorb stärker gewichtet seien.

Die wegen der Corona-Pandemie hoch verschuldeten Staaten profitieren nicht nur über niedrigere Zinszahlungen für ihre Anleihen von der EZB-Politik – und tief ausgewiesenen Inflationsraten. Auch der Haushaltsrechnung kommen Abweichungen nach unten zugute. Denn die langfristige Entwicklung vieler Ausgaben, etwa die Lohnerhöhungen für Staatsbedienstete oder bei den Pensionen, wird maßgeblich von der offiziellen Teuerung mitbestimmt – je niedriger, desto flacher bleiben diese Kurven.

Im Gegenzug kassiert der Fiskus, etwa bei der Umsatzsteuer, Einnahmen auf Basis tatsächlich bezahlter Preise. Zwar betont Böttcher, dass "der Verbraucherpreisindex in der Methodik nicht in Stein gemeißelt ist". Abzuwarten bleibt jedoch, ob sich der politische Wille für grundlegende Änderungen findet. (Alexander Hahn, 12.9.2021)