Schriftstellerin Kathrin Röggla schreibt in ihrem Gastbeitrag über den Anschlag auf das World Trade Center, den sie als Augenzeugin in New York miterlebt hat – und über die Folgen für die Gesellschaft.

Nine Eleven. Es sind diese zwei Wörter, diese zwei Zahlen, die Neutralität suggerieren und doch die Massivität einer historischen Verwerfung in sich tragen. Ein Ereignis, das mit seinem Datum bezeichnet wird, zieht ein besonderes Jubiläum nach sich. Zwanzig Jahre Nine Eleven.

Es ist strenggenommen das einzige Ereignis, das mit seinem Datum hinreichend benannt wirkt, als wäre es eine Zäsur, die die Welt in ein Vorher und Nachher teilt. Und tatsächlich vermeine ich in der Rückschau diese Teilung nachvollziehen zu können. Die mediale und politische Welt der Neunziger wurde jäh abgebrochen und in die Periode der Nullerjahre voller Paranoia, Asymmetrien und Unsicherheiten geschickt. Die analoge Welt begann sich seither deutlicher zu verabschieden als vorher, seit jenem sommerlichen Septembertag in New York, an dem ich zu etwas wie einer Augenzeugin wurde, was auch immer das heute noch heißen mag. Vermutlich, zu sehen, wie ein Anschlag aus heiterem und an diesem Tag knallblauem Himmel eintrat, ein Anschlag, der dann allerdings sehr schnell eingeordnet wurde, als asymmetrischer Krieg bezeichnet und in der Achse des Bösen lokalisiert. Ein Ereignis von Islamisten geplant und durchgeführt, das in einer Mechanik die fundamentalistisch-christliche Rhetorik der politischen Kräfte in Washington ins Alltagsrauschen der Medien rief.

Was nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York blieb: eine Ruine, alles in Schutt und Asche.
Foto: AFP/Alexandre Fuchs

War es überhaupt ein Ereignis, wurde in intellektuellen Debatten schon bald danach gefragt, was war das? Etwas, das den Patriot Act des Überwachungsstaates hervorbringen sollte, dessen Echo wir heute auch in Europa mit Anwendungen wie der Pegasus-Software erleben, etwas, das den Afghanistan-Einsatz der Nato, mit prominenter Beteiligung von USA und Deutschland, zur Folge hatte, ein Einsatz, der jetzt nach zwanzig Jahren so unrühmlich wie chaotisch zu Ende geht und immer weiter zu Ende geht, als wäre das Ende noch nicht dick genug. "Enduring Freedom" hieß dieser Einsatz einmal, kaum zu glauben. Plötzlich, so wurde immer wieder gesagt, zeigte sich der Westen bzw. die USA genauso verletzlich wie eine Stadt im Nahen Osten, mehr noch, war es nicht der schlimmste Terroranschlag mit den meisten Opfern? Jedenfalls etwas, mit dem man kollektiv umgehen musste, als Stadt, als Staat und in der Folge auch in Europa und der übrigen Welt.

On high alert

Diesen Umgang, jenen Aftermath, zu verfolgen und so Augen- und Ohrenzeugin zu bleiben war für mich eine Möglichkeit der Orientierung. Schließlich versuchte ich genauso ratlos wie alle andern in New York aus den Übersprungshandlungen der ersten Stunden rauszukommen, und das dauerte. Aber was heißt in New York? Alle waren dabei gewesen bei jenem Ereignis, ein jeder aus der westlichen Welt kann bis heute sagen, wo er gewesen ist in jenem Moment, als der "ferne Krieg zu uns kam", es war, als wäre die Geschichte angehalten worden, natürlich ist es diese Perspektive des Globalen Nordens, die damit weitergegeben wird. Seither ist die Welt "on high alert" und mit fortgesetzter Vulnerabilität?

Es liegt nahe, diesen historischen Moment zumindest als Geburtsstunde vieler Erzählungen zu bezeichnen, am prominentesten Verschwörungstheorien, die damals immer mit dem Satz begannen "Wie konnten die US-amerikanischen Geheimdienste DAS übersehen haben?" und sich heute weiterentwickelt haben zu einem großen Vertrauensverlust gegenüber der politischen Elite. Von der präsidialen Ankündigung der Offenlegung von Akten ist nicht wirklich viel zu erhoffen, sie dürfte keine eindeutige Geschichte mehr liefern können. Aber eindeutige Geschichten werden unter all den medialen Schichten ohnehin nicht mehr zu finden sein, gab es vielleicht nie, zumindest aus der Sicht einer Schriftstellerin. Man hätte nur einfach gerne mehr Transparenz im demokratischen Sinn.

"Plötzlich waren wir konfrontiert mit einem verschärften Medien-Jetzt, jener Zwangsgegenwart der Liveticker, die damals, in der Zeit, als das Internet noch jung war, Updates hießen, ein dauerndes Jetzt, wie wir es in der Pandemie wieder erleben können."

Gegen die Transparenz steht auch jene Medienzeitlichkeit, die mit dem 11. September ihre deutlichen Konturen gewann. Plötzlich waren wir konfrontiert mit einem verschärften Medien-Jetzt, jener Zwangsgegenwart der Liveticker, die damals, in der Zeit, als das Internet noch jung war, Updates hießen, ein dauerndes Jetzt, wie wir es in der Pandemie wieder erleben können. Plötzlich wurde darüber die Welt als Reaktion auf diesen Anschlag erzählt, natürlich ebenfalls asymmetrisch, aber wir hörten von Reaktionen in Nigeria, Australien und Österreich, wir waren in Kentucky und in Queens. Es ist eine Gegenwart, die strukturell immer schon bekannt ist, rhythmisch Pressekonferenzen, Statements, Kommentare und neue Einsätze bekanntgibt und immer vorwärtsgeht und stets vergisst.

Zurückzublicken auf diesen Tag heißt zu verstehen, wie sich in diesem ausgerufenen Krieg gegen den Terror das Prinzip der Politik der Angst durchsetzen konnte. Von Guantanamo, den Enthüllungen Edward Snowdens über die Drohneneinsätze bis zu den Anschlägen in Paris, Menschenrechtsverletzungen und Kriegseinsätzen. Ich kann und möchte hier kein geschlossenes Panorama zeichnen, aber die Vorstellung, dass jederzeit eine Bombe hochgehen kann, ist erst seit jenem sommerlichen Dienstag vor zwanzig Jahren in den Alltag eingegangen.

Geopolitisches Spiel

Nein, ich bin nicht traumatisiert, schon gar nicht im medizinischen Sinn, aber ich stehe in einem Zusammenhang, den man durchaus als Grammatik der Angst bezeichnen könnte, ein System, das das prekäre Überleben andauernd zeichnet, in der alles jeden Moment anders sein könnte. Das hat nicht allein etwas mit dem 11. September zu tun, sondern auch mit jenem turbokapitalistischen System, dem Kapitalozän, dem auch jene Mechanik der abrupten Gewalt inhärent ist, die sich mal Bahn brechen kann, mal zugelassen wird. Von der Finanzierung des Terrorismus im geopolitischen Spiel mal ganz abgesehen.

Die kanadische Publizistin Naomi Klein hat in ihrer Schock-Strategie beschrieben, wie dieses Prinzip US-amerikanische Kontinuität hatte. Und doch ist gerade in diesem Kontext das Geschehen am 11. September der Beginn einer Neuordnung. Zumindest aus westlicher Perspektive, eine Änderung der außenpolitischen Orientierung der USA, aus östlicher Perspektive blickt man auf einen sich endlos ziehenden Krieg. Die meisten Opfer islamistischen Terrors sind Muslims, das sollte man nicht vergessen.

"Heute überlagern sich die Bilder vom 11. September mit Gegenwartsbildern aus Kabul. Verzweifelte Frauen, die demonstrieren und in eine Tiefgarage gesperrt werden."

Am Ende sollte ein kurzer Blick auf den realen 11. September in New York stehen: Rund 3000 Menschen sind an diesem Tag als direkte Folge des Anschlags gestorben, 3500 der Rettungskräfte und Helfer an den Folgen ihres Einsatzes, eine hohe Zahl, die sicherlich viel zu niedrig berechnet ist. Dieses Festhalten möchte kein Teil einer Opferhierarchie sein, die wir permanent im Mund führen, Opferzahlen gegeneinander aufrechnend und Menschen zu Menschen unterschiedlicher Klasse machend. In jener Geburtsstunde eines medialisierten Terrors, der mit Bildern arbeitet und dem mit Bildern zugearbeitet wird, der ständigen Wiederholung der schrecklichen Szenen, als wäre die Schockstarre ein sicherer Ort, wäre das infam. Die Bilder, die in dieser Logik jetzt erneut gezeigt werden, erschüttern mich allerdings doch. Dabei gewesen zu sein macht doch einen Unterschied. Wie muss es gerade andernorts sein, dort, wo ich nicht gewesen sein werde?

Heute überlagern sich die Bilder vom 11. September mit Gegenwartsbildern aus Kabul. Verzweifelte Frauen, die demonstrieren und in eine Tiefgarage gesperrt werden. In einem anderen Kommentar zum 11. September rief mir die Historikerin Ute Frevert den Begriff der Fernstenliebe in Erinnerung, er stammt von Nietzsche, und er macht uns deutlich, dass darin die zivilisatorische Herausforderung liegt. Nächstenliebe ist damit verglichen einfach. Folgen wir diesem Pfad!

Vielleicht ist ein Rückblick deswegen so verlockend, weil er so tut, als wäre etwas abgeschlossen. Doch wir wissen von William Faulkner, das Vergangene ist nicht tot, es ist noch nicht einmal vergangen. Insofern kann der Blick zurück immer nur gleichzeitig mit einem Blick nach vorn unternommen werden. Leben wir also wirklich in einer Zeit nach dem 11. September? Manchmal bin ich mir nicht sicher, vielleicht geht er ja weiter. (Kathrin Röggla, 11.9.2021)