Die Regisseurin Audrey Diwan mit ihrem Goldenen Löwen für "L'événement".

Foto: AFP / Filippo Monteforte

Als Paolo Sorrentino am Samstag für seine exaltierte Neapel-Hommage É stata la mano di Dio (Die Hand Gottes) den Großen Preis der Jury erhielt, war der Applaus so groß, dass man glauben konnte, das sei schon die Entscheidung gewesen. In Italien hatten viele auf diese Ehrung gehofft – man wollte Sorrentino für seine Heimkehr, seinen Amarcord gewürdigt wissen. Ausschweifend, derb, aber auch bescheidener als sonst erzählt er von seiner Herkunft, von den Motiven, die ihn zum Filmemacher werden ließen.

Die internationale Kritik hatte hingegen mehrheitlich auf Jane Campions Meta-Western The Power of the Dog gesetzt. Die Neuseeländerin ist am Ende mit dem Regiepreis ausgezeichnet worden.

Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei (links) und die Regisseurin Audrey Diwan.
Foto: AFP / Filippo Monteforte

Illegale Abtreibung

Juryentscheidungen sind auch Richtungsentscheidungen; was am Ende vorne liegt, das entscheidet ein Stück weit der Zeitgeist mit. Für den Goldenen Löwen hatte die Jury unter Vorsitz des Parasite-Regisseurs Bong Joon-ho ein Zeichen für Öffnung im Sinn, das auch auf die Gleichstellungsdebatten im Film gerichtet war: Statt den Regiestars erhielt ihn die 41-jährige Regisseurin Audrey Diwan für ihr Abtreibungsdrama L’événement, damit war nach Julia Ducournau in Cannes schon wieder eine Französin erfolgreich.

Ihr Film ist indes weit weniger gattungssprengend als der Palmen-Sieger Titane, inszenatorisch eher rigides Körperkino. Diwan richtet den Blick auf die Schwierigkeit, einen Schwangerschaftsabbruch heimlich, im Verborgenen durchzuführen. Der Film ist so geradlinig gebaut, dass man sich bisweilen wünscht, er würde innehalten. Das soziologische, das gesellschaftliche Umfeld, Klassenmerkmale diagnostizierende Auge, das Annie Ernaux’ Vorlage bestimmt, ist hier auf das Allernotwendigste reduziert.

Anamaria Vartolomei, die Diwan am Ende ihrer emotionalen Dankesrede zu sich auf die Bühne holte, trägt den Film mit ihrer kontrollierten Präsenz wie die Heldin eines Films der Brüder Dardenne. Die Kamera verliert sie nie aus dem Blick, ihre von Woche zu Woche energischeren Versuchen, einen Zugang zu einer Abtreibung zu finden. Die Entscheidung selbst ist kein Thema: Abtreibung ist 1961 noch illegal, Anne muss sich daher in die Illegalität bewegen, gegen die Vorbehalte der Ärzte durchsetzen, die sie schlecht beraten, und gegen den studentischen Freundeskreis, der von ihrem Problem nichts wissen will.

Vertrauen auf Bildkraft

Mit den Darstellerpreisen bewies die Jury, dass sie diversen Kinoformen etwas abgewinnen kann. Penélope Cruz erhielt für ihre Rolle als energische, alleinerziehende Mutter in Pedro Almodóvars Madres paralelas den Coppa Volpi als beste Darstellerin, der philippinische Schauspieler John Arcilla wurde nicht weniger verdient für seinen Part in Erik Mattis Thriller On the Job: The Missing 8 ausgezeichnet, in dem er einen dubiosen Journalisten spielt, der sich gegen ein korrupten System aufzubäumen beginnt.

Die US-Schauspielerin und neuerdings auch Regisseurin Maggie Gyllenhaal wurde für ihre an Zwischentönen reiche Elena-Ferrante-Adaption The Lost Daughter mit dem Drehbuchpreis prämiert. Besonders erfreulich war auch der Spezialpreis an Michelangelo Frammartinos filmisches Höhlengleichnis Il buco, einem Film, der ganz seiner Bildkraft, nicht Erzählformen vertraut.

Alles in allem traf Bongs Jury, zu der auch Vorjahressiegerin Chloé Zhao gehörte, würdige Entscheidungen, über die Reihung kann man diskutieren. Vielleicht wollte man nach einem Jahr Corona ja auch einfach nur keinem Netflix-Film den Goldenen Löwen geben: Der Streamer hat sowohl Sorrentinos als auch Campions Film produziert. (Dominik Kamalzadeh, 12.9.2021)