Zuvor noch in Ungarn, besucht der Papst aktuell die Slowakei.

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Bratislava – Für seinen Slowakeibesuch Mitte September hat sich der Papst einen besonders "franziskanischen" Programmpunkt vorgenommen. Am 14. September fährt er nach Luník IX, eine Trabantenstadt am äußersten Rand der EU am Stadtrand von Košice, der Metropole der Ostslowakei. Luník IX ist eine Gegenwelt zu dem Europa, das sich die Väter der EU einst erträumten: Massenarbeitslosigkeit, Müll; Autowracks und zerbrochene Scheiben, verkohlte Hauswände.

Sozialer Brennpunkt

Luník IX ist sozialer Brennpunkt; ein Lehrbeispiel für eine verfehlte Sozial- und Integrationspolitik. Ende der 1980er-Jahre wurde die sozialistische Plattensiedlung renoviert für Angehörige der unter den Kommunisten zwangsweise sesshaft gemachten Roma-Minderheit. Doch die anderen Mieter zogen weg; schon bald war es ein überfülltes Ghetto, eines der größten des Landes.

Sorge um die Entwicklung ihrer Kinder, einfache hygienische Grundbegriffe, Sorgfalt für den öffentlichen Raum, Planung über den Tag hinaus, ein grundsätzliches Bewusstsein für die Konsequenzen der eigenen Handlungen: Es sind fehlende Standards wie diese, die vielen Millionen Roma in Europa bei Populisten das Stigma von "Asozialen" eintragen.

Dabei verfügten sie, die vor etwa einem Jahrtausend aus Indien nach Europa kamen, über eine ausgeprägte Stammesethik – die aber vielerorts durch Verfolgungen, Zwangsansiedlung und eine vermeintlich "gleich machende" Versorgungsattitüde des Staates zerstört wurde. Eine Anpassung der Roma an die westliche Gesellschaft – unabhängig von Methoden und politischem System – ist seit Jahrhunderten fast vollständig misslungen; ob mit ungebremster Wirtschaftsliberalisierung oder eiligen EU-Förderprogramme nach Füllhorn-Manier.

Hohe Arbeitslosigkeit

Im Osten der Slowakei lebt der Löwenanteil der Roma des Landes. Höchstens jeder Fünfte von ihnen hat Arbeit; die übrigen leben von Sozialhilfe. 2005 zog die liberalkonservative Regierung, die das Land durch tiefgreifende Reformen EU-marktfähig zu machen versuchte, die Notbremse und koppelte eine stark gekürzte Sozialhilfe von der Kinderzahl ab: maximal 270 Euro – erstmals seit kommunistischer Zeit weniger, als durch Erwerbsarbeit beider Elternteile zum Mindestlohn erreicht werden konnte. Die Steuergelder der arbeitenden Bevölkerung reichten nicht mehr zum Umverteilen. Als Reaktion plünderten hunderte Roma Lebensmittelgeschäfte.

Tatsächlich entsteht Frust vor allem dort, wo Fürsorge sich in die Zukunft richtet oder auf Erfahrungen der Vergangenheit verweist. Als "Kinder der Natur" dächten die Roma grundsätzlich nur in der Gegenwart, betonen Betreuer. Die Vorsorge für die Zukunft oder ein Nachdenken über die Vergangenheit sei ihnen völlig fremd. In manchen Dialekten fehlten für "gestern" oder "morgen" sogar die Vokabeln. "Du kannst ihnen im Sommer keine Winterkleider und im Winter keine T-Shirts geben", beschreibt ein Pfarrer die Misere. Sie würden sie wegschmeißen "oder im besten Fall verkaufen".

Differenzierung gefragt

Im Umgang mit der Problematik greifen politische Akteure meist auf Stereotype zurück. "Selbstverschuldet" durch ihr eigenes Fehlverhalten sei die miserable Lage der Roma, meinen die einen; nein, verursacht durch immer neue Menschenrechtsverletzungen, gezielte Unterdrückung sowie soziale und ökonomische Ausgrenzung, beklagen die anderen. "Einige Roma", "manche Roma": Schon solche Unterscheidung fehlt allzu oft.

Dabei ist, wie Sozialarbeiter und Seelsorger betonen, ein Höchstmaß an Differenzierung gefragt. Nicht nur, dass soziale Zusammensetzung, kulturelles Niveau und Dialekte von Roma-Siedlung zu Roma-Siedlung variierten. Immer wieder würden jene, die sich gesellschaftlich einzugliedern versuchten, verspottet oder gar als Verräter ausgeschlossen. Oft sei es so schon einigen wenigen möglich, alles Erreichte – menschlich wie materiell – wieder zu zerstören. Und wo man irgendwelchen Druck ausübe, so ein Pfarrer hinter vorgehaltener Hand, beriefen sich gerade Wucherer und Kriminelle auf die Menschenrechte und beklagten "Unterdrückung" und "Rassismus".

Beharrliche Sozialarbeit gefordert

Die EU hat bereits viele Dutzend Millionen in Roma-Integrationsprojekte investiert. Entgegen den materiellen Machbarkeitsgewohnheiten der westlichen Demokratien sind allerdings für einen Erfolg übergreifende Strategien und eine direkte Beteiligung der Roma statt bloßer gut dotierter Sonderprogramme notwendig, wie Experten kritisieren. Materielle Offensiven allein verpufften und schafften bei den Gebern Frust. Es brauche den langen Atem beharrlicher Bildungs- und Sozialarbeit, um einen ganz allmählichen Bewusstseinswandel zu erreichen.

Die katholische Kirche bemüht sich im Osten der Slowakei seit Jahrzehnten um die Roma. Das trägt mancherorts auch kleine oder größere Früchte – auch wenn staatliche Behörden ihre Programme immer noch mangelhaft mit kirchlichen Stellen koordinieren. Auch in Luník IX versuchen Kirchenvertreter, Vertrauen aufzubauen. Seelsorge kann da auch schon mal mit der Gitarre stattfinden. Gesundheitserziehung und Freizeitgestaltung: Alles ist hier vonnöten. Von Luník IX zurück nach Europa ist der Weg viel weiter als umgekehrt. Das wird auch Papst Franziskus feststellen. (APA, 13.9.2021)