Ungleichheit in den Regionen der Euroländer erschwert stabilisierende Geldpolitik im Euroraum.
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Das oberste Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) ist, Preisstabilität zu gewährleisten. Nach Auffassung des EZB-Rates kann Preisstabilität am besten durch eine mittelfristige Inflationsrate von zwei Prozent gewährleistet werden. Ein Werkzeug, das die EZB einsetzt, um dieses Ziel zu erreichen, sind Veränderungen der Leitzinsen. Mit solchen Zinsänderungen beginnt eine lange Wirkungskette, die über verschiedene Kanäle Preisänderungen nach sich ziehen soll. Hierbei entstehen aber auch Umverteilungseffekte:

Dieser Umverteilungseffekt wird zwar von neukeynesianischen Modellen postuliert, bisher gab es allerdings so gut wie keine empirischen Belege. In einer neuen Studie belegen wir empirisch, dass Zinserhöhungen zu einer Verringerung des Anteils der insgesamt gezahlten Löhne und Gehälter an der Wertschöpfung (Lohnquote) der Unternehmen führen. Bei Unternehmen mit einer hohen Lohnquote ist dieser Effekt besonders ausgeprägt. Hier sinkt die Lohnquote hauptsächlich durch eine Reduzierung der insgesamt gezahlten Löhne und Gehälter. In Unternehmen mit einem hohen Anteil von Fremdkapital an ihrer Bilanzsumme (Fremdkapitalquote) sinkt die Lohnquote nach einer Zinserhöhung zwar ebenfalls relativ stark, jedoch beruht dies auf einem kurzfristigen Anstieg der Wertschöpfung.

Zinserhöhungen führen zu einer Senkung der Lohnquote

In der Untersuchung werden die Auswirkungen geldpolitischer Schocks in Form einer unerwarteten Erhöhung des Leitzinssatzes um ein viertel Prozentpunkt betrachtet. Im Unternehmensdurschnitt führt ein geldpolitischer Schock zu einem signifikanten Rückgang der Lohnquote. Die Lohnquote fällt im ersten Jahr nach dem Schock um etwa 0,4 Prozentpunkte. Dieser Rückgang ist von sinkenden Personalkosten getrieben. Die Wertschöpfung sinkt zunächst nur leicht, sie reagiert aber nach zwei und drei Jahren stärker – was die Lohnquote, gemeinsam mit einem Wiederanstieg der insgesamt gezahlten Löhne und Gehälter, nahe an ihr Ausgangsniveau bringt.

Die durchschnittlichen Lohn- und Fremdkapitalquoten machen Unternehmen unterscheidbar

Unternehmen und ihre Geschäftsmodelle können vor allem anhand ihrer Fremdkapitalquote und ihrer Lohnquote unterschieden werden. In manchen Branchen wird sehr stark mittels Einsatz von Fremdkapital und Maschinen, kaum aber durch den Einsatz von Arbeitskräften produziert – ein Beispiel ist die Tabakverarbeitung mit einer durchschnittlichen Lohnquote von 25 Prozent und einer durchschnittlichen Fremdkapitalquote von 72 Prozent. In anderen Branchen wird sehr arbeitsintensiv produziert, zum Beispiel in der Forschung und Entwicklung mit einer Lohnquote von 72 Prozent und einer Fremdkapitalquote von 30 Prozent. Die Fremdkapitalquote und die Lohnquote können näherungsweise beschreiben, wie sich die Kosten eines Unternehmens auf Fremdkapital- und Arbeitskosten aufteilen.

Es ist davon auszugehen, dass Unternehmen je nach Kostenstruktur unterschiedlich auf geldpolitische Schocks reagieren. Arbeitsintensive Unternehmen können ihre Kosten nach einem geldpolitischen Schock tendenziell einfacher durch Personalpolitik steuern, fremdkapitalintensive Unternehmen hingegen können ihre Kosten durch Veränderung ihrer Bilanz beeinflussen. Sowohl die Lohnquote als auch die Fremdkapitalquote enthalten spezifische Informationen über die Unternehmen, die bei einer getrennten Betrachtung der beiden Größen nicht verfügbar wären. Unternehmen mit einer hohen Lohnquote reagieren stark und besonders durch Anpassung der Lohnkosten auf Zinsänderungen.

Lohnanpassungen in Unternehmen mit hoher Fremdkapitalquote gering

Einerseits kann die sich jährlich verändernde Fremdkapitalquote eingesetzt werden, um die Auswirkungen geldpolitischer Schocks auf Unternehmensebene zu berechnen. Andererseits kann die (durchschnittliche) Fremdkapitalquote von Unternehmen verwendet werden, um diese nach Geschäftsmodellen und Branchen zu kategorisieren. In Unternehmen mit einer hohen Fremdkapitalquote und gleichzeitig einer hohen Lohnquote sinkt die Lohnquote bereits im Jahr des geldpolitischen Schocks. Dies wird aber nicht primär durch Lohnanpassungen getrieben. Bei Unternehmen mit einer hohen Fremdkapitalquote muss diese Erhöhung kurzfristig nicht notwendigerweise durch eine Ausweitung der Produktionskapazitäten erfolgen, sondern kann auch auf Lagerabverkäufen oder auf bilanzverkürzenden beziehungsweise die Profitabilität steigernden Schritten beruhen. Zwei Jahre nach der Zinserhöhung ist die Wertschöpfung signifikant niedriger als im Ausgangsjahr. Die Lohnquote steigt (insignifikant) über ihr ursprüngliches Niveau.

Reaktion der Lohnquote: Ein Indikator für wirksame Geldpolitik

Die genannten Ergebnisse sind nicht nur aus verteilungspolitischer Perspektive interessant, sondern haben auch Implikationen für die Wirksamkeit der Geldpolitik: Löhne und Gehälter bestimmen die Kaufkraft der meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, da sie ihre wesentliche Einkommensquelle sind. Sinkt die Lohnquote, so reduziert sich die Kaufkraft der Mehrheit der Bevölkerung im Verhältnis zur Wertschöpfung, ihre Nachfrage sinkt und die Inflationsrate verringert sich.

Die Geldpolitik wirkt damit vor allem über ihren Einfluss auf besonders arbeitsintensiv produzierende Unternehmen: Dort ist die Anpassung der Lohnquote nach einer Zinserhöhung im Vergleich zu anderen Unternehmen relativ stärker. Reagiert die Lohnquote hingegen kaum, ergeben sich auch nur geringe Effekte einer Zinserhöhung auf die Nachfrage und damit die Inflationsrate.

Ungleichheit in den Regionen der Euroländer erschwert stabilisierende Geldpolitik im Euroraum

Für die europäische Ebene bedeutet dies, dass die Geldpolitik der EZB stärker in den Ländern und Regionen wirkt, in denen Unternehmen besonders arbeitsintensiv produzieren.

Mit dieser Heterogenität ist es für die EZB schwierig, die Inflationsraten im Euroraum zu stabilisieren, und es kann zu makroökonomischen Ungleichgewichten kommen: Wenn die insgesamt gezahlten Löhne und Gehälter in manchen Regionen nach einer Zinserhöhung stärker sinken als in anderen, weil Unternehmen dort mit sehr hohen Lohnquoten produzieren, hat dies eine stärkere Bremswirkung auf die Inflationsraten in diesen Regionen. Umgekehrt ist die Wirkung der Geldpolitik in den Regionen mit niedrigen Lohnquoten – die häufig mit den Ländergrenzen übereinstimmen – tendenziell stärker beeinträchtigt. Im schlimmsten Fall kann diese Heterogenität zur Folge haben, dass auch die Konjunkturzyklen in den Ländern divergieren und damit stabilisierende Geld- und Fiskalpolitik im Euroraum erschwert wird.

Fazit: Bedeutung für die Politik

Die Ergebnisse verdeutlichen die heterogene Wirkung von Geldpolitik auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Eigentümerinnen und Eigentümer, auf verschiedene Firmentypen und über Ländergrenzen hinweg.

Während für die nationale Politik und die allgemeine Öffentlichkeit die Umverteilungswirkung zwischen Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und Eigentümerinnen und Eigentümern besonders bedeutsam erscheint, ist für die EZB und andere Akteurinnen und Akteure mit einer makroökonomischen und europäischen Perspektive die Heterogenität entlang der geldpolitischen Wirkungskette von besonderem Interesse. Für alle Akteurinnen und Akteure stellt sich die Frage, ob die Geldpolitik mit anderen Werkzeugen eine homogenere Wirkung auf die Volkswirtschaft haben kann und wie Umverteilungseffekte und Ungleichgewichte ausgeglichen werden können.

Die EZB könnte ihre Geldpolitik in Zukunft unabhängiger von Banken und direkter auf Haushalte, öffentliche Institutionen oder gleichmäßiger auf Unternehmen zuschneiden. Dies könnte beispielsweise durch die Einführung eines digitalen Euros gelingen, aber auch durch Umgehung des zwischengeschalteten Finanzmarkts. Ebenso könnte die EZB gezielte Kreditprogramme vermehrt einsetzen, wie die in der Finanzkrise aufgelegten längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte (TLTROs), die eine Kreditvergabe an Unternehmen und Haushalte erleichtern sollten. Während die TLTROs allgemein eine Kreditvergabe voraussetzten, könnten sich neue Programme gezielter an Unternehmenskennzahlen orientieren, um eine gleichmäßigere Wirkung der Geldpolitik zu erreichen. Ein Beispiel wären spezielle Kreditprogramme für Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerentgelte.

Nichtsdestotrotz ist in naher Zukunft nicht damit zu rechnen, dass die EZB auf eines ihrer Hauptwerkzeuge, die Zinsänderungen, verzichtet. Deswegen sollte der Umverteilungseffekt von politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern genauer diskutiert werden.

Aus makroökonomischer Sicht ist eine gleichmäßigere Wirkungsentfaltung der Geldpolitik wünschenswert, sowohl über Firmen- als auch über Ländergrenzen hinweg. Dafür wäre eine Konvergenz der Arbeits- und Kapitalmärkte zwischen den Euroländern zu begrüßen. Um eine Konvergenz zu beschleunigen, wäre eine tiefere Integration des europäischen Arbeitsmarkts sowie langfristig eine gemeinsame, eurozonenweite Verschuldung unerlässlich. Eine Vereinheitlichung der europäischen Arbeitsmarktinstitutionen sollte deswegen diskutiert werden. Ebenso sollten die Bankenunion und die Kapitalmarktunion in der politischen Diskussion priorisiert werden, um strukturelle Ungleichgewichte auszugleichen. Regionale Unterschiede im Einsatz von Produktionsfaktoren können auch mit deren Verfügbarkeit zu tun haben: Stehen Kapitalmarkt und Kredite weniger zur Verfügung, entwickeln sich wahrscheinlich eher Unternehmen, die nicht durch hohe Fremdkapitalquoten charakterisiert sind; diese reagieren ebenso schwächer auf die Geldpolitik. (Jan Fritsche, Lea Steininger, 14.9.2021)