Florenz feiert heuer seinen Sohn Dante, etwa mit der Erstellung einer Totenmaske.

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Dante wollte, dass der Leser eine Vorstellung von der ganzen Größe und dem ganzen Elend des Menschen bekommt, sagt der Kenner Karlheinz Stierle.

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Seinen Lieblingsgesang aus der Commedia kann Karlheinz Stierle weitgehend auswendig, unzählige weitere Strophen kann er auf Anhieb zitieren. So gut wie der deutsche Romanist kennt kaum jemand die Göttliche Komödie des Dante Alighieri. Heute vor 700 Jahren ist der Dichter gestorben. Warum das gar nicht heitere Werk ausgerechnet Commedia heißt, will Stierle nicht beantworten. Dass der Titel daher kommt, dass Dante sich in Abgrenzung zu Tragödienhelden als niedere Figur begreift, greift Stierle zu kurz. Eine Antwort bräuchte Stunden, winkt er ab. Außerdem schreibt er gerade ein Buch darüber.

STANDARD: "Il sommo poeta" wird Dante in Italien genannt, der höchste Dichter. Was macht ihn so bedeutend?

Stierle: Sprachlich macht die Commedia besonders, dass Dante sie nicht wie damals üblich auf Latein geschrieben hat, sondern auf Italienisch. Natürlich gab es schon vor Dante italienische Dichtung, aber er hat für die Commedia aus den vielen Dialekten, die es zu seiner Zeit in Italien gegeben hat, ein großes Italienisch geformt. Man kann das mit Luther und seiner Bibelübersetzung ins Deutsche vergleichen. Dantes Sprache war allerdings schon für seine Zeitgenossen schwer zu verstehen, komplex und differenziert. Die Commedia ist vollkommen übersichtlich aufgebaut, aber von ungeheurer Dichte und Gedrängtheit.

STANDARD: Dahinter steht allerdings eine gescheiterte Biografie. 1265 geboren, hatte Dante in seiner Heimatstadt Florenz ziemlich Karriere gemacht. Doch 1302 wurde er aus ihr verbannt ...

Stierle: Dante kam aus gutem Hause, die Familie war vermögend, er konnte lange studieren und entschied sich 1295, in die Politik einzusteigen. Nach fünf Jahren war er auf dem Gipfel angelangt und einer der drei Prioren der Stadt. Zwei Jahre später geriet er aber in eine Auseinandersetzung der politischen Fraktionen, die dazu führte, dass er ins Exil geschickt wurde. Sein Vermögen wurde ihm entzogen, seine Freunde und Familie musste er zurücklassen.

STANDARD: Am Anfang der "Commedia" heißt es "Grad in der Mitte unsrer Lebensreise / Befand ich mich in einem dunklen Walde, / Weil ich den rechten Weg verloren hatte". Er spielt damit auf dieses erschütternde Erlebnis an ...

Stierle: Damals musste er sein ganzes Leben neu orientieren. Für mich wird er mit diesem Ereignis erst zum großen Dichter. Vor dem Exil war er ja ein Gelegenheitsdichter von Liebesgedichten. Ab nun hat er aber wahrscheinlich 20 Jahre an der Commedia gearbeitet. Wie genau, das wissen wir nicht. Man muss sich vorstellen, dass er bei dem unsteten Leben, das er im Exil führen musste, immer wieder einzelne Stücke geschrieben und aufgehoben hat, Boccaccio erzählt in seinem Büchlein zum Lob Dantes davon. Es gibt aber leider keine Autografen von Dante, nur Abschriften. Vor seinem Tod hatte er noch die Möglichkeit, alle Teile zusammenzufügen. Er hatte gehofft, er könnte nach der Fertigstellung triumphal nach Florenz zurückkehren. Dazu kam es nicht.

STANDARD: Dante erzählt die Reise seines Alter Ego von der Hölle durchs Purgatorium ins Paradies, er spickt den Weg mit historischen Figuren und mythischen Helden. Was soll diese überwältigenden Fülle bezwecken?

Stierle: Dante hatte ein enzyklopädisches Interesse, die Welt im Ganzen darzustellen. Das hatte er davor schon einmal versucht, das Projekt allerdings wieder abgebrochen. Dante wollte, dass der Leser eine Vorstellung von der ganzen Größe und dem ganzen Elend des Menschen in der Welt bekommt.

STANDARD: Wer ist daran schuld?

Stierle: Für Dante hat der Mensch die Welt selbst zerstört. Einmal ist in der Commedia vom "Blumenbeet, das uns tollwütig macht" die Rede.

STANDARD: Die "Commedia" zählt 100 Gesänge, insgesamt über 14.000 Verse. Haben Sie Lieblingsszenen?

Stierle: Im Gesang, in dem die Hochmütigen vorgestellt werden und zur Demut bekehrt werden sollen, gibt es einen arroganten Stadtherrn, der sich, um seinen Freund, der in französische Gefangenschaft geraten war, zu retten, öffentlich erniedrigen muss. Wie der am ganzen Leib zitternd sich dennoch zwingt, diese Schande aus Liebe auf sich zu nehmen, das ist unglaublich ergreifend.

STANDARD: Verse wie "Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren" über dem Höllentor hat man gehört. Welche sollte man noch kennen?

Stierle: Es gibt eine Reihe von prägnanten Formulierungen, die heute jeder in Italien kennt. Etwa aus der Erzählung der Francesca von ihrer Liebe zu Paolo. Bei der gemeinsamen Lektüre eines Liebesromans werden sie so von ihrer eigenen Leidenschaft überwältigt, dass sie sich küssen. Da heißt es dann: "An jenem Tage lasen wir nicht weiter".

STANDARD: War Dante gläubig?

Stierle: Ganz gewiss, aber mit großen Fragen. Wie kann es sein, fragte er sich etwa, dass eine so wunderbare Seele wie Vergil, der ja nicht getauft war, nicht ins Paradies darf, sondern ewig im Limbo, einem Sonderbereich der Hölle, bleiben muss?

STANDARD: Der römische Dichter begleitet Dante durch die Hölle. Warum?

Stierle: Dante war neugierig und gebildet. Alles, was er über die Epen Homers wusste, hatte er aber aus lateinischen und mittelalterlichen Quellen, denn er konnte kein Griechisch. So wurde Vergil ein Vorbild. Allerdings kümmerte Dante sich nicht um Gattungs- und Stiltraditionen. Er hatte Lust, sie zu verändern.

STANDARD: Gestorben ist Dante in Ravenna. Wie hat er im Exil überlebt?

Stierle: Bei Cangrande in Verona hat er zum Gesinde gehört, er war als Intellektueller sicher verwendbar als jemand, der etwa Briefe geschrieben hat. Er musste sich aber durchschlagen, bis er letztlich in Ravenna Aufnahme bei einem Stadtherrn gefunden hat, wo es ihm besser ging.

STANDARD: Ähnlich durchwachsen verlief die Rezeption der "Commedia".

Stierle: Die Commedia ist das Werk eines Isolierten und Einsamen. Die erste große Wirkung beginnt etwa 30 Jahre nach seinem Tod dank Boccaccio. Später fängt die Malerei an, sich auf sie zu beziehen. Mehrere Jahrhunderte war Dante aber so gut wie vergessen! Das Divina im heutigen Titel ist der Reklamegag eines Verlegers von 1555, um ein Buch, das sich nicht mehr gut verkauf hat, aufzuwerten. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Dante durch Schlegel und Schelling neu entdeckt. Denn Schlegel suchte im Zusammenhang mit seiner Theorie des Romantischen nach einer Gründungsfigur. Er war ja Romanist, da erschien ihm Dante als Figur an der Schwelle zur Neuzeit als der Begründer der modernen Poesie in Europa.

STANDARD: Deutsche haben den Italienern Dante also zurückgegeben?

Stierle: Ja. Nationalistische Vereinnahmungen, wie sie Dante im Faschismus widerfahren sind, haben mit seinen Absichten nichts zu tun. (Michael Wurmitzer, 14.9.2021)