Peter Henisch, versierter Spieler der Fiktionalisierung: Bildausschnitte aus einer Zeit, als das Dichten noch geholfen hat.

Foto: Heribert Corn

Die Frage, was ein "Jahrhundertroman" sei, wird man Millennials nicht ohne Weiteres stellen wollen: Jahrhundertromane sind aus der Mode gekommen. Früher einmal, als man bereitwillig einräumte, seinen Mann ohne Eigenschaften zwar zu schätzen, ihn nur leider (noch) nicht gelesen zu haben, glichen Jahrhundertromane Achttausendern.

Sie wurden vornehmlich von Gerüchten umwölkt. Man gab an, ein solches Massiv gerade noch rechtzeitig vor dem eigenen Ableben besteigen zu wollen. Ob Ulysses oder Die Schlafwandler: Jeder dieser Wälzer enthält den gedanklichen Reichtum der Epoche, der er entstammt. Thomas Kapielski fand den auf diese Ungetüme zutreffenden Komparativ: "Je dickens, destojewski." Peter Henischs neues Romanwerk wäre unter lauter Achttausendern der gepflegte Ausflugsberg vor der eigenen Haustür. Von rundem Profil, geplagt von einer Anmut, die ihre Schrecken erst auf den zweiten Blick offenbart.

Solche schmälere Jahrhundertromane ähneln Verlustanzeigen. Es scheint beinahe ein Ding der Unmöglichkeit geworden, das, was eine Gesellschaft umtreibt, in seiner Gänze abzubilden. Peter Henischs neues Buch nennt sich zwar Der Jahrhundertroman. Aber es betreibt – bei einem listenreichen Autor vom Kaliber Henischs kein Wunder – eher Bedeutungsabbau.

Das, was Henisch zu sagen hat, wirkt wie freundlich in den Bart gemurmelt. Ein Herr in den hohen Siebzigern fasst Zutrauen zur Kellnerin seines Wiener Stammcafés. Er, der an den Folgen eines Schlaganfalls laboriert, macht ihr ein sittlich hochstehendes Angebot. Sie möge, gegen Erlag von zwei Euro pro Seite, das Manuskript seines Romans für ihn abtippen.

Studentinnen-Blues

Besagte Studentin, Lisa aus Linz, hat gerade heftig den Blues. Von ihrem tumben Boyfriend angeödet, weiß sie mit dem an sie weitergereichten Konvolut nichts Rechtes anzufangen. Exbibliothekar Roch (wie der Märchenvogel) besitzt eine für sie unleserliche Klaue. Damit nicht genug: Die Reihenfolge der Blätter gerät heillos durcheinander. Die Geschichte nimmt dennoch ihren vorherbestimmten Lauf. Wir folgen Roch und Lisa in ein klassisches Gewölbe: ein Bücherdepot. Nur dass wir uns nicht im Buenos Aires von Jorge Luis Borges wiederfinden, sondern in der deutlich weniger exotischen Florianigasse.

Roch, der posterotische Verführer, geht aufs Ganze. Er zieht die Widerstrebende mit der Nacherzählung des Jahrhundertromans – seines eigenen – gleichsam ins Vertrauen. Robert Musil soll 1918 am gegenüberliegenden Fenster gestanden haben: grippegeplagt, während unweit von ihm die neuen Akteure die "Republik Deutschösterreich" ausriefen. In Roch laufen alle Linien der Moderne wie in einem Zentrum zusammen.

Bernhard, atemringend

Zugleich eignet dem arglosen alten Mann etwas Teuflisches. Aus der Mottenkiste hervorgezogen, tanzen an seinen Fäden die unwahrscheinlichsten Puppen. Wir beobachten Peter Handke mit Pilzkopffrisur beim Kinobesuch. Wir sehen Thomas Bernhard, bereits schwer nach Atem ringend, wie er versucht, den Besuch der Heldenplatz-Uraufführung anno 1988 zu vermeiden. Weitere Akteurinnen in Rochs Roman-im-Roman: Ingeborg Bachmann in kratzigen Wollstrumpfhosen 1946 in Wien. Heimito von Doderer, der sich der peinigenden Selbstauskunft über seine Rolle während der NS-Zeit windungsreich zu entziehen versucht.

Er habe sich, sagt Roch, seinen Roman vorgestellt "wie einen Staffellauf": Eine Autorin gibt das poetische Feuer an die nächste weiter. Doch irgendwann überlappen sich die Leben der Dichterinnen und Dichter, verstricken sich mit- und ineinander. Alle zusammen ergeben sie jenes Wimmelbild der Moderne, von dem unser Bewusstsein zehrt. In dem auch Platz für Christine Nöstlinger ist, die eines Nachts einen Telefonanruf von einem gewissen Ernest Hemingway erhält.

Der hat gerade die Übersetzung von Maikäfer flieg gelesen. Sein Ansinnen: "I’d like to marry you." An der widerstrebenden Lisa jedoch prallt Rochs treuherzige Werbung ab. In einer sarkastischen Wendung dieses an Finten reichen Buches tritt der Wirklichkeitssinn doch noch in sein Recht. Lisas syrische Schulfreundin soll abgeschoben werden; für den Trost durch Ernst-Jandl-Gedichte besteht plötzlich kein Bedarf. Gefragt sind jetzt Techniken der Problembewältigung: solidarisches Handeln.

Es bleibt, so viel steht fest, unseren Millennials überlassen, künftige Romane des noch jungen 21. Jahrhunderts vorzulegen: neue Achttausender. Bis dahin wird uns der heute 78-jährige Peter Henisch noch manches Schelmenstück liefern. Höhenmessungen hat sein famoser Jahrhundertroman nicht nötig. (Ronald Pohl, 14.9.2021)