Noch rund 400 alte Holzwindmühlen prägen die Alvar-Landschaft auf der schwedischen Ostseeinsel Öland.

Foto: Marc Vorsatz

Wenn die Schatten länger werden, kehrt wieder Ruhe ein auf Öland. Eine einvernehmliche, ansteckende Harmonie entsteht zwischen der schwedischen Insel und den wenigen Besuchern, die den baltischen Altweibersommer schätzen. Die sonnenhungrigen Schweden sind längst zurückgekehrt auf ihre Festlandswelt. So zahlreich sie zur Sonnenwende über die Ölandbrücke kamen und die Sandstrände im Norden belagerten, so kollektiv haben sie sich Mitte August wieder zurückgezogen. Das "Mallorca Schwedens", wie manche das Eiland spöttelnd nennen, hat nur knapp zwei Monate Hochsaison.

Seltene Landschaftsform

Rund 400 hölzerne Windmühlen aus drei Jahrhunderten sind über die karge Insel verstreut und müssen bald wieder Stürmen und Frost trotzen. 2000 sollen es einmal gewesen sein. Eine stattliche Anzahl, bedenkt man, dass Öland nicht einmal 140 Kilometer lang und keine 20 Kilometer breit ist. Auf 20 Einwohner kam früher eine Mühle.

"Wir hatten kaum den Strand von Öland betreten, so merkten wir schon, dass dieses Land ganz anders beschaffen war als die übrigen schwedischen Provinzen", notierte Carl von Linné 1741. Der Botaniker sollte auf Befehl der Hochlöblichen Reichsstände des Königreichs Schweden die Flora erforschen und systematisieren. Linné erkannte schnell, dass die Einzigartigkeit des isolierten Biotops eher unauffällig daherkam – in Form der Stora Alvaret.

Die Stora Alvaret (übersetzt: der Große Alvar) ist der größte seiner Art weltweit und als "Agrarlandschaft Südliches Öland" mittlerweile Unesco-Welterbe.
Foto: Marc Vorsatz

Die Stora Alvaret (übersetzt: der Große Alvar) ist der größte seiner Art weltweit und als "Agrarlandschaft Südliches Öland" mittlerweile Unesco-Welterbe. Als Alvar bezeichnet man eine recht seltene Landschaftsform, die sich durch eine dünne Vegetationsschicht auf einem von der Eiszeit flachgeschliffenen Kalksteinplateau definiert.

Eine eigenartige Landschaft mit vereinzelten Sträuchern und windschiefen Bäumen, die man auf den ersten Blick eher in der Serengeti verorten würde denn auf einer Ostseeinsel – zumindest im Spätsommer.

Kleine Wunderwerke

Man kann der Stora Alvaret lauschen, sie riechen, ertasten und mit dem Auge erfassen. Möchte man die Kalkheide jedoch auch schmecken, kommt man an Christofer Johansson nicht vorbei. Der junge Koch ist ein Shootingstar der schwedischen Haute Cuisine und zaubert mit hocharomatischen Kräutern der Alvaret kleine Wunderwerke zu moderaten Preisen auf den Teller.

Seine Ängamat ist eines davon. "Ängamat heißt so viel wie Wiesenessen und ist ein altes schwedisches Gericht aus allerlei Gemüse", erklärt der eloquente Chefkoch und Inhaber des Hotels Borgholm, der eher an einen frischgebackenen Elite-Uni-Absolventen erinnert als an einen wettergegerbten Inselkoch.

"Unsere Wiesensuppe mit Trüffeln verfeinern wir mit wildem Thymian und Oregano, Myrrhenkerbel, Heiligenkraut, Eberraute, Grünem Wacholder, Lorbeer und Salbei, die wir sanft in Milch köcheln." Das Ergebnis? Ein erstaunliches Ensemble an Aromen.

Die nördlichsten Trüffeln

Der Meister unternimmt gelegentlich auch mit anderen Köchen Exkursionen in die Alvarlandschaft. Dabei sollen seine Kollegen ein besseres Gefühl für die extravaganten Zutaten bekommen: Wo und wann wachsen die besten Kräuter? Und wie findet man eigentlich öländische Trüffeln? Hier und auf der Nachbarinsel Gotland gedeihen die nördlichsten der Welt. Die vielen Sonnenstunden auf den beiden Eilanden und die Ostsee verhindern im Winter allzu klirrend kalte Nächte.

Der ehrgeizige Johansson ist sich der Erwartungshaltung seiner Gäste bewusst. Hat er doch eben erst Restaurant und Hotel von Karin Fransson übernommen und tritt damit in große Fußstapfen. Wer Franssons Namen auf Öland in den Mund nimmt, erntet überall ein bewunderndes "Oh" und "Ah". 1967 kam sie vom Bodensee in High Heels und Minirock zum Urlauben auf die Insel. Sie verliebte sich gleich zweimal. In den Hotelier Owe Fransson und in Öland.

Satt machen

"Die Inselküche war damals alles andere als elegant", erinnert sich Fransson. "Sie musste nur satt machen. Es gab keinen Sellerie, keinen Knoblauch, einfach nichts." Also pflanzte die gelernte Sekretärin eigenes Gemüse an und ging in der Alvaret auf Kräuter-Pirsch.

Was die bodenständige Schwäbin dort entdeckte, übertraf alle ihre Erwartungen. Die vielen aromatischen Kräuter sind so besonders, dass sie als Basis einer eigenen Alvaret-Cuisine dienen. Fransson erkochte sich einen Namen, bekam ihre eigene Radio- und TV-Show und ist Autorin mehrerer Kochbücher.

Der schwedische Koch Christofer Johansson verarbeitet in seiner Wiesenküche alle essbaren Zutaten der Welterbe-Landschaft Stora Alvaret.
Foto: Marc Vorsatz

Einmal fand auch die königliche Familie den Weg in ihr Restaurant. Von der royalen Sommerresidenz Schloss Solliden ist es nur ein Katzensprung in das Küstenstädtchen Borgholm. "Wir werden das kulinarische Erbe von Karin Fransson weiterführen", bekräftigt Christofer Johansson. Das ist ihm mit seiner "Wiesenküche" bereits gelungen, befindet der Guide Michelin.

Königin der Knödel

Ein ganz anderes Konzept verfolgt Eva Petersson mit dem kleinen Selbstbedienungsrestaurant Ninnis Kroppkaksbod im Norden der Insel. "Unser Gericht kommt gleich zur Sache, es braucht nicht einmal Beilagen", scherzt Petersson, in der Gegend besser bekannt als Königin der Knödel. "Es ist Kartoffelknödel, gefüllt mit Schweinespeck und Zwiebeln, dazu gibt’s Obers, Preiselbeeren und, wer mag, Butter." Evas Knödel sind auf der Insel so beliebt, dass selbst feine Hochzeitsgesellschaften hier einen Stopp einlegen.

Die Erdäpfel dafür wachsen auf den familieneigenen, kalkhaltigen Äckern, Zwiebeln und Schweinefleisch liefern auch Inselbauern. Die Peterssons machen nun schon in vierter Generation Knödel, haben die Hausmannskost aber in der Gegenwart ankommen lassen. Alle Rohstoffe sind gluten- und laktosefrei, die vegane Variante wird mit Pilzen und Zwiebeln gefüllt.

Behutsames Zusammenspiel

Erica und Mikael Anerhaf betreiben wiederum im Süden der Insel ein Bed and Breakfast mit nachhaltigem Konzept. "Als wir erste Pläne schmiedeten, eine Ökopension zu eröffnen, hatten wir weder Geld noch Ahnung von der Branche", erinnert sich Erica. "Mikael studierte noch, und ich arbeitete als kaufmännische Leiterin bei Ikea." Nach zähen Verhandlungen bekamen die Jungunternehmer schließlich einen Kredit für ihr Vorhaben.

Sie führen das Haus nach einem ganzheitlichen Konzept, das weit über herkömmliche ökologische Standards hinausgeht. Sie verwenden etwa nicht einfach nur Bio-Lebensmittel, sondern die Produkte müssen auch sozial nachhaltig hergestellt worden sein.

Sie kommen nur von zertifizierten Landwirtschaftsbetrieben, die Umweltziele wie die Reinhaltung des Grundwassers und der Luft aktiv umsetzen und ein artgerechtes Umfeld für Nutztiere garantieren. Letzteres schmeckt man natürlich – ebenso wie die Kräuter der Stora Alvaret.

Denn Ölands Bauern lassen ihr Vieh seit Jahrhunderten dort weiden. Sonst wäre die Kalkheide längst verbuscht. Nur durch das behutsame Zusammenspiel von Mensch und Natur ist diese einzigartige Kulturlandschaft entstanden. (Marc Vorsatz, RONDO, 17.9.2021)