Dietmar Millonig war selbst Weltklasseläufer und 32 Jahre für Nike tätig.

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Derara Hurisa lief als Erster über die Ziellinie – und wurde disqualifiziert.

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Irgendwann werden sich auch Schuhe von selbst in Bewegung setzen, sich ein Beispiel nehmen an den E-Bikes, der Fantasie sind sowieso keine Grenzen gesetzt. "Aber noch", sagt Dietmar Millonig, "noch müssen wir schon selber laufen." Der Kärntner bezieht sich auf den 38. Vienna City Marathon, der am Sonntag mit der Disqualifikation des vermeintlichen Siegers Derera Hurisa zu Ende gegangen ist. Der Äthiopier trug Schuhe, deren Sohle fünfzig Millimeter dick war, vierzig wären erlaubt gewesen. Hurisa wurde eher ein Versehen denn böse Absicht unterstellt. Künftig werden Marathonveranstalter vielleicht vor dem Start das Schuhwerk der Elite überprüfen. Millonig kann nicht sagen, ob der eine Zentimeter Unterschied viel ausgemacht oder gar entschieden hat. "Aber irgendwo musst du eine Grenze ziehen. Sonst könntest du ja auch den Marathon bei Kilometer 42 beenden." Und nicht erst 195 Meter später.

Millonig (66) weiß, wovon er redet. Der gebürtige Villacher war im Mittel- und Langstreckenlauf Weltklasse, der erste Österreicher, der über die Meile unter vier Minuten blieb, 1980 Olympiasechster über 5.000 Meter, 1986 Hallen-Europameister über 3.000 Meter. Und, und, und. Millonig hat in Wien 32 Jahre lang für die Firma Nike gearbeitet, ehe er vor kurzem in Pension ging, seine Töchter Lena und Julia gehören im Mittel- und Langstreckenlauf zur heimischen Elite, sein Bruder Hubert ist ein renommierter Trainer.

Rekorde fürs Image

Die "gewaltige Entwicklung der letzten vier, fünf Jahre" hat Dietmar Millonig unmittelbar mitbekommen, schließlich war es sein Arbeitgeber, von dem sie ausging. "Davor ist eher in Richtung Dämpfung geforscht worden." Da ist es den Herstellern also um die breite Masse gegangen, um das Fußvolk. Schließlich ist das Feld der Hobbyisten viel größer als jenes der Elite, also fürs Business interessanter. Der jüngsten Konzentration auf die Spitzenläufer liegt die Überlegung zugrunde, dass pulverisierte Rekorde einen großen Werbeeffekt haben. Nach Nike sind längst auch Konkurrenzfirmen wie Adidas oder Asics auf den Zug aufgesprungen.

Und die Bestmarken purzeln zuhauf. Die in die Sohle eingebaute Carbonplatte wirkt Wunder, wenn man so will, vor allem auf den Langstrecken, insbesondere im Marathon. Da blieb 2016 eine einzige Frau unter 2:20 Stunden, drei Jahre später waren es nicht weniger als 13. Im Jahr 2017 blieben vier Männer unter 2:05, nur zwei Jahre später waren es schon 17, die diese Marke unterboten. Der schnellste Deutsche Amanal Petros (Bestmarke 2:07:18) hat die Wirkung der Carbonplatte wie folgt erklärt: "Der Abdruck ist jetzt viel intensiver, du springst förmlich." Schätzungen zufolge bringt das neu entwickelte Schuhwerk im Marathon zwei bis vier Sekunden pro Kilometer. Demzufolge ließen und lassen sich persönliche Bestzeiten im Spitzenbereich um eineinhalb bis drei Minuten verbessern.

Wohlgemerkt, im Spitzenbereich. "Ich würde mir den Schuh nicht anziehen", sagt Millonig und meint etwa den Vaporfly, den sein ehemaliger Arbeitgeber entwickelte. Er läuft lieber "immer noch mit meinem alten Pegasus", aus diversen Gründen. "Ich glaube nicht, dass diese Superschuhe dem Hobbyläufer etwas bringen", sagt Millonig. Eher im Gegenteil. Etliche Experten befürchten unerwünschte Effekte wie übermäßige Belastungen der Achillessehne und der Wadenmuskulatur. "Diese Superschuhe", sagt Millonig, "können einen nur beschleunigen, wenn man schon von Haus aus ein Supertempo läuft. Aber ob davon ein Vierminutenläufer profitiert, weiß ich nicht." Der Preis, 250 Euro aufwärts, kommt ebenso dazu wie die Tatsache, dass sich die schnellen Flitzer nach etwa 300 Kilometern abgenutzt haben, wohingegen klassische Laufschuhe oft drei-, vielleicht sogar viermal so weit getragen werden können.

Ein Vierminutenläufer, nur zur Erklärung, läuft im Marathon einen Kilometer-Schnitt von vier Minuten, damit wäre er nach knapp 2:50 Stunden im Ziel, eh auch nicht ganz schlecht, aber doch eine andere Welt. Apropos andere Welt: Millonig kann sich klarerweise an die Südafrikanerin Zola Budd erinnern, die stets barfuß lief und 1984 schon als 17-Jährige über 5.000 Meter eine Zeit von 15:01,83 Minuten lief, die nur deshalb nicht als Weltrekord anerkannt wurde, weil Südafrika wegen der Apartheidpolitik sportlich boykottiert wurde. Und er führt auch den Äthiopier Abebe Bikila ins Treffen, der 1960 in Rom barfuß zum Olympiasieg im Marathon lief – in 2:15:16 Stunden.

Ski und Schwimmanzüge

Vergleiche mit anderen Sportarten liegen auf der Hand und folgen auf dem Fuß. "Den Ski, den die Profis fahren", sagt Millonig, "werden wir zwei auch nicht fahren können." Er erinnert an die Ganzkörperanzüge im Schwimmen, mit denen es zu einer Rekordflut kam, ehe sie wieder verboten wurden. Der Leichtathletikverband World Athletics (WA) wiederum hat das 40-mm-Limit gesetzt und fordert, dass jeder Wettkampfschuh auch im Handel erhältlich ist. Mehr als eine Carbonplatte in der Sohle ist nicht erlaubt, sie darf unterteilt sein, die einzelnen Teile dürfen sich aber nicht überlappen. Dietmar Millonig glaubt, dass die Entwicklung kaum aufzuhalten ist. "Die Frage ist nur, was als Nächstes kommt – kleine Sprungfedern?" (Fritz Neumann, 13.9.2021)