Der Kollege vom Kleinformat entschuldigte sich. Er wisse eh, sagte er, dass ich seine Frage nicht einmal dann beantworten würde, wenn ich die Antwort wüsste. Aber fragen müsse er. Es gehe um den Vienna City Marathon: Ob ich wisse, wer da im Zieleinlauf kollabiert und verstorben sei.

Natürlich hätte ich auflegen können.

Nur wäre damit, abgesehen davon, dass jeder seine Erwartungshaltung vom anderen Medium bestätigt hätte, niemandem geholfen: Der Kollege ist keiner von den Bösen. Im Gegenteil.

Gerade deshalb und weil ich weiß, was für eine Geschichte er abliefern sollte, wollte ich einen Notausgang anbieten: "Futter", mit dem in die reißerische Boulevardgeschichte (Arbeitstitel: "Der Tote des VCM") vielleicht doch auch irgendwo ein Stück brauchbarer Information reinrutschen könnte.

Foto: Thomas Rottenberg

Das soll und kann nichts relativieren. Schon gar nicht für Hinterbliebene. Den Tod eines Einzelnen können weder Statistik noch Expertise noch Studien oder Drumherum auf der Metaebene weniger schlimm machen. Noch weniger, wenn er einen relativ jungen, augenscheinlich doch gesunden Menschen dort ereilt, wo niemand ans Sterben denkt.

Beim Sport, egal bei welchem, hat der Tod nichts zu suchen: Laufen, Sport, ist gesund. Am – beim – Laufen stirbt man nicht.

Denn dieser Gedanke stellt alles auf den Kopf, was wir über Sport, Bewegung und Gesundheit zu wissen glauben: Es gibt Dinge und Aktivitäten, die gesund sind und machen – und solche, die krank machen.

Drehen wir das um, stellen wir das infrage, gerät alles ins Rutschen: Der Tod eines Läufers (oder einer Läuferin) passt nur in die Legende von Marathon – aber nicht ins echte Leben.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Kollege vom Kleinformat tat mir leid. Das sagte ich ihm auch. Denn während ich an dieser Stelle – mit gebührendem Abstand – von der Headline und dem "Hochjazzen" der Geschichte einen Schwenk zum weniger Plakativen zumindest versuchen kann, hat er keine Chance: Meine Geschichte ist bis hierher schon 2.000 Zeichen lang. Ich schreibe für ein Publikum, das von der Materie Ahnung oder zumindest Interesse an ihr hat. Aber der Kollege aus dem Schockressort würde insgesamt 1.000 Zeichen Platz bekommen. "Wenn überhaupt", seufzte er. Und dort schreibt er für jedermensch.

Bekämen Sie da nach der Erfüllung des Drama-Auftrags noch einen einzigen zusätzlichen, allgemein verständlichen Erklärsatz unter?

Wohl kaum.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich habe dem Kollegen trotzdem einen der Stehsätze des Langstreckenlaufens mitgegeben. Sie kennen ihn eh: "Es gibt nichts Ungesünderes als einen Marathon – aber es gibt nichts Gesünderes als das Training dafür."

Er seufzte abermals: Menschen, die Sport nur aus der Fendrich'schen TV-Perspektive ("Ein Sturz bei 120 km/h …") kennen, steigen da nach der ersten Hälfte genüsslich aus. Die genügt – weil sie das Bild der "Verrückten" unterstreicht.

Verrückten, zu denen man – hiermit aus gutem Grund – gar nicht gehören will.

Wie viele Menschenleben der Couchpotato-Triathlon (Fressen, Saufen, Rauchen) kostet? Irrelevant: Die sieht ja keiner.

(Anmerkung: Sämtliche Fotos von Läufern am Boden sind im Vorbeilaufen entstandene, nachträglich auf diesen Fokus zugeschnittene Zufallstreffer der auf "Dauerfeuer" geschalteten Gopro.)

Foto: Thomas Rottenberg

Der VCM hatte heuer genau dieses "Problem" der Sichtbarkeit der Kollabierten: Gefragt, ob ich je zuvor so viele Läuferinnen und Läufer bei einem Event am Boden gesehen habe, musste ich ja tatsächlich bestätigen: "Nein, noch nie."

Das deckt sich mit den Zahlen der Veranstalter: 97 Behandlungen und 29 Transporte ins Spital stehen für vergangenen Sonntag in der Bilanz des Arbeitersamariterbundes. Nicht erwähnt sind da jene DNFs ("did not finish"), die keine Betreuung durch Sanitäterinnen und Sanitäter brauchten. Ich kenne und sah etliche.

Braucht man mehr, um das "Es gibt wenig Ungesünderes …" bestätigt zu sehen? Diese alarmistische Polemik kriegt sogar der Praktikant auf 1.000 Zeichen hin.

Und: Ist nicht als Zyniker oder Menschenverächterin entlarvt, wer angesichts dieser Fakten dennoch von einem "Lauf-Fest" spricht – und sogar jubelt?

Oder den Veranstaltern zu einem rundum gelungenen Event gratuliert?

Foto: Thomas Rottenberg

Genau das möchte ich aber tun. Und zwar ganz bewusst: Dass ich am VCM in der Vergangenheit etliches auszusetzen hatte (und vieles davon auch heuer eintraf), ist das eine. Aber der Lauf an sich war grandios. Hochprofessionell organisiert und abgewickelt – nicht nur, aber auch weil es alles andere als selbstverständlich ist, so einen Bewerb derzeit überhaupt auf die Straße zu bringen.

Doch auch das "Troubleshooting" funktionierte: Ja, es stimmt, ich bin noch nie an so vielen Läuferinnen und Läufern am Boden vorbeigerannt.

Nur: Ich konnte tatsächlich – bis auf ein Mal, aber dieser Mann lag nach seinem Staffelpart nur entspannt im Gras – vorbeirennen.

Denn da war immer schon jemand: Polizistinnen und Polizisten, Passantinnen und Passanten, andere Läufer oder Läuferinnen, Securitys, Streckenposten – oder aber Sanitäterinnen und Sanitäter.

Foto: Thomas Rottenberg

Das zählt. Über das traditionell leere VCM-Startersackerl zu jammern ist das eine – aber dass Rettungsketten so funktionieren wie an diesem Tag, ist eine Spur wichtiger. Dafür möchte ich Danke sagen.

Bewusst zynisch formuliert: Ich wünsche es niemandem, beim Laufen oder sonst wo einfach umzukippen. Aber wenn es passiert, wäre der VCM mein bevorzugtes Setting dafür.

Ich weiß sehr genau, in welchem Kontext ich das schreibe: Auch die perfekte Rettungskette kann manchmal nicht verhindern, was manchmal einfach nicht zu verhindern ist. Das ist fürchterlich. Unendlich tragisch.

Aber kein Beleg dafür, dass Laufen, dass ein Bewerb per se gefährlich ist.

Aber erklären Sie das einem nach Drama gierenden Chefredakteur.

Oder seinem Publikum. Mit weniger als 1.000 Zeichen.

Foto: Thomas Rottenberg

Ein guter Freund meinte Sonntagabend, ich solle bitte keine Fotos von Rettungseinsätzen zeigen. Das vermittle ein falsches Bild. Mache Angst.

Ich verstehe ihn, sehe es aber anders:

Solche Bilder erzählen – erklären– auch die andere Geschichte. Die, dass Hilfe bereitsteht, falls passiert, woran lieber niemand denken will.

Was aber trotzdem möglich ist – egal wie gut man sich vorbereitet. Egal wie gesund und stark man sich fühlt.

Ich habe mir deshalb schon vor Jahren angewöhnt, den Sanis vor jedem Start einen langweiligen, stinkfaden Tag zu wünschen.

Diesen Sonntag war ihnen nicht langweilig.

Im Gegenteil. Aber das war in 96 der 97 Fälle ein Segen.

Foto: Thomas Rottenberg

Sollten Sie dennoch wissen wollen, wie ich diesen Lauf erlebt habe und wieso ich ihn genossen habe, finden Sie ein paar Bilder auf meinem Facebook-Account. (Thomas Rottenberg, 14.9.2021)

Anmerkung: Das Honorar für diesen Beitrag geht an den Arbeitersamariterbund.

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Foto: Thomas Rottenberg