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Menschen, die im Ärmelkanal gerettet wurden, werden im Hafen des britischen Dungeness an Land gebracht. Die Polizei erwartet sie bereits.

Foto: Reuters / Peter Nicholls

Sie nutzten das gute Wetter aus, und es wurde eine Rekordwoche für die Menschenschmuggler. Zahlen des britischen Innenministeriums zeigen, dass in der Woche bis zum 10. September 1959 Flüchtlinge und Migranten Großbritannien erreichten, nachdem sie die gefährliche Überfahrt über die Meeresenge zwischen dem französischen Calais und dem englischen Dover unternommen hatten. Die Flüchtlings- und Migrationskrise am Ärmelkanal spitzt sich zu: In diesem Jahr kamen bisher mehr als 14.400 Menschen über diese Route auf die britische Insel, was die Rekordzahl vom vergangenen Jahr von 8420 Ankünften weit in den Schatten stellt.

Innenministerin Priti Patel ist empört und hat angekündigt, dass britische Patrouillen in Zukunft nicht mehr Boote mit Migranten an die englische Küste leiten werden. Stattdessen sollen die Gefährte zurückgedrängt werden. Zurzeit trainieren Beamte des Grenzschutzes mit Jetskis im Ärmelkanal, wie man das sicher bewerkstelligen kann. Bilder des Nachrichtensenders Sky News zeigen, wie drei Jetskis auf ein Boot zupreschen und es an der Weiterfahrt hindern. Das Training soll bis zum Ende des Monats abgeschlossen sein. Danach soll die neue Taktik eingesetzt werden.

Patel geht damit auf Konfrontationskurs zu Frankreich. Denn nachdem britische Grenzschützer Miniboote daran gehindert haben, britische Gewässer zu erreichen, werden sie die französische Küstenwache informieren, die damit dann die Verantwortung für die Menschen trägt. Doch das kümmert die britische Innenministerin wenig, die immerhin ihr Image als Rechtsauslegerin in der Konservativen Partei zu verteidigen hat und eine scharfe Antimigrationspolitik verfolgt.

Flüchtlinge auslagern

Im Vorjahr dachte sie darüber nach, Militärschiffe gegen die Schlauchboote einzusetzen. Dann wollte sie Flüchtlinge auslagern und sie auf Ascension Island, also auf die Himmelfahrtsinsel im Südatlantik, schicken. Nachdem sich das als nicht praktikabel, um nicht zu sagen als Himmelfahrtskommando herausgestellt hatte, erwog sie, Asylwerberzentren in umgebauten Fährschiffen einzurichten, die vor der Küste verankert werden sollten. Auch diese Pläne stießen auf harsche Kritik. "Wie werden wir", fragte pointiert ein User auf Twitter, "diese Lager nennen, in denen wir Menschen konzentrieren?"

Frankreich ist seinerseits ungehalten über die Haltung Londons. Die Regierung verhalte sich völlig widersprüchlich, heißt es in Paris: So verweigere das Königreich seit dem Brexit neue Absprachen am Ärmelkanal – verlange aber zugleich eine bessere Küstensicherung. Innenminister Gérald Darmanin warf den Briten dieser Tage sehr undiplomatisch vor, sie schadeten sowohl der Kooperation als auch der Freundschaft zwischen den beiden Ländern. Auch verletzten sie das internationale Seerecht, wenn Migranten auf offener See zur Umkehr gezwungen würden, fügte Darmanin hinzu: "Frankreich akzeptiert keine Praktiken, die dem Seerecht widersprechen, und auch keine finanzielle Erpressung."

Millionenvereinbarung

Im Juli hatten London und Paris eine Vereinbarung unterzeichnet: Großbritannien zahlt seinem Nachbarn umgerechnet rund 63 Millionen Euro, damit Frankreich laut britischer Sicht die Anstrengungen intensiviert, um Migranten an der Überfahrt zu hindern. Die Zahl der Grenzbeamten soll auf 200 verdoppelt, Patrouillen verschärft und neues Überwachungsgerät angeschafft werden.

Laut französischer Darstellung sei diese Zahlung aber eben nicht an die Bedingung geknüpft, dass Frankreich die Migranten an der Überfahrt hindere. Die Regierung in Paris hat dennoch die Kontrollen verschärft und den Verkauf von Schlauchbooten in den französischen Städten am Ärmelkanal untersagt. Über die Wirkung dieser Maßnahmen gehen die Meinungen allerdings auseinander: Die meisten Schlepper erwerben die Gummiboote über das Internet.

Folgen von Afghanistan

Ein Vertreter der französischen Polizeigewerkschaft Alliance, Bruno Noël, gab zu bedenken, dass die französische Küste, von der die Migranten starteten, 70 Kilometer lang sei. "Das ist unmöglich zu überwachen", sagte er. "Man müsste moderne Mittel einsetzen, vor allem wenn man sieht, was in Afghanistan passiert. Diese Entwicklung werden wir in einigen Wochen in Calais zu spüren bekommen." (Jochen Wittmann aus London, Stefan Brändle aus Paris, 14.9.2021)