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Ein Sekundenbruchteil kostete Janet Jackson beinahe ihre jahrzehntelange Karriere.

Foto: Reuters / Eduardo Munoz

"Dies ist eine Geschichte über Kontrolle", haucht Janet Jackson im titelgebenden Track ihres Albums "Control" (1986). "Meine Kontrolle. Darüber, was ich sage. Darüber, was ich tue." Jackson hat sich ihrem übermächtigen Vater entzogen und macht Musik nach ihren Spielregeln. "Control" schießt auf den ersten Platz der US-Charts, fünf der Lieder darauf erreichen die Top Five. Das Album verkauft sich zehn Millionen Mal und macht sie zu einem Superstar. Doch 2004 verliert Jackson plötzlich wieder die Kontrolle über ihre Karriere und ihr Image – "Nipplegate" wegen.

Am 2. Februar 2004 tritt sie vor eine Fernsehkamera und entschuldigt sich bei der US-amerikanischen Öffentlichkeit für ihre rechte Brust. In der Nacht zuvor hat ihr Duettpartner Justin Timberlake bei ihrem Auftritt in der Halbzeitpause des Super Bowl einen Teil ihres Oberteils abgerissen. Für den Bruchteil einer Sekunde sehen 150 Millionen Menschen ihre nackte Brust, bevor Jackson sie erschrocken verdeckt und die Fernsehkameras abblenden.

Jacksons Statement am Tag nach dem Super Bowl.
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Stunden später drängt ihr Management sie aus Sorge um den Erfolg ihres nächsten Albums zu einer Entschuldigung. In einem bizarren Statement nimmt Jackson alle an der Produktion beteiligten Konzerne in Schutz: den Fernsehsender MTV, den Medienkonzern CBS, die mächtige US-amerikanische Footballliga NFL. Sie allein sitzt vor der Kamera, sie allein übernimmt als Entblößte die Verantwortung – während Justin Timberlake, der sie bloßgestellt hat, nirgends zu sehen ist.

Kontrollverlust

Jackson entgleitet in diesem Moment die so hart erkämpfte Kontrolle. Als jüngstes der Jackson-Geschwister wird sie in eine Familie geboren, die sich als Superstar-Fabrik versteht. Ihr Vater formt ihre fünf älteren Brüder zu den Jackson Five und ihren Bruder Michael danach zum "King of Pop". Auch Janet wird bereits als Kind ins Studio gedrängt. Mit sechzehn und achtzehn Jahren nimmt sie unter der Ägide ihres Vaters zwei zuckersüße Pop-Alben auf, die sich mäßig verkaufen. "Control", ihr drittes Album, wird ihr Befreiungsschlag. Es folgen vier mit Mehrfachplatin ausgezeichnete Platten.

2004 wird sie dann als Star für den Super Bowl gebucht. Ein Auftritt in der Halbzeitpause des Football-Finalspiels gilt in den USA als Krönung einer erfolgreichen Künstler*innenkarriere. Jackson beschließt, Justin Timberlake für ein Duett auf die Bühne zu holen. Die Managements der beiden planen eine wohlkalkulierte Provokation: Während Timberlake die Zeile "Gonna have you naked by the end of this song" singt, soll er einen Teil von Jacksons schwarzer Korsage ablösen. Darunter soll allerdings keine nackte Haut, sondern ein rotes Bustier zum Vorschein kommen. Doch als Timberlake an Jacksons Oberteil zerrt, reißt er gleich alles darunter mit.

Der Moment hat weitreichende Folgen: in der Medienszene, in der Technik, in der Popkultur, vor allem aber für Jackson selbst. Unmittelbar danach gehen bei der Federal Communications Commission (FCC), der für die Funkanstalten in den USA zuständigen Behörde, über eine halbe Million Beschwerden ein. Daraufhin verhängt sie eine Strafe von 550.000 Dollar gegen den Medienkonzern CBS. Die NFL schließt den Musiksender MTV für alle Zeiten davon aus, eine Halbzeitshow auszurichten. Sponsoren fordern ihr Geld zurück. Und alle Live-Übertragungen großer Events müssen künftig zeitversetzt ausgestrahlt werden, um bei ähnlichen Vorfällen eingreifen zu können.

Die "Schwarze Liste"

Die Großkonzerne, die Jackson in ihrer erzwungenen Entschuldigung geschützt hat, lassen sie jetzt fallen. Die Mediengruppe Viacom, zu der sowohl CBS als auch MTV gehören, setzt sie auf eine "schwarze Liste". Ihre Lieder dürfen nicht mehr gespielt, ihre Musikvideos nicht mehr gezeigt werden. In Zeiten ohne soziale Medien und Streamingplattformen ist das ein schwerer Schlag. Auch bei den Grammy Awards 2004 dürfen Jackson und Timberlake nur auftreten, wenn sie sich erneut vor den Kameras entschuldigen. Jackson lehnt ab. Timberlake stimmt zu, entschuldigt sich beim Publikum – nicht bei ihr – und gewinnt an diesem Abend seinen ersten Grammy.

Jackson bleibt indes wochenlang das Ziel sexistischer und rassistischer Häme. Die meisten Kommentator*innen sind sich einig, dass sie "Nipplegate" im Alleingang geplant hat, um ihr neues Album zu bewerben. Was eine fünffache Grammy-Preisträgerin mit damals rund 45 Millionen verkauften Alben von einem solchen Stunt hätte, ist freilich schwer zu beantworten – weswegen man die Antwort kurzerhand in ihrem verdorbenen Charakter sucht. Singt sie denn nicht schon ihre ganze Karriere lang über Sex, Einvernehmlichkeit, Respekt und Lust? Plötzlich ist Jackson eine "Sexmieze", und Timberlake, der eigentliche Akteur, ihr argloser Handlanger – wenn er in den Berichten denn überhaupt erwähnt wird.

"Jezebel" auf Youtube

Heute sehen viele Jackson in der damaligen Berichterstattung auf das jahrhundertealte rassistische Stereotyp der "Jezebel" reduziert – der hypersexuellen, unersättlichen schwarzen Frau, der ein weißer Mann hilflos ausgeliefert ist. Die US-Medien reagieren sich in einer moralischen Panik an ihr ab, deren Scheinheiligkeit offensichtlich ist: Während Jackson für ihre "Unsittlichkeit" öffentlich an den Pranger gestellt wird, will gleichzeitig jeder ihre nackte Brust sehen. Zwei Jahre in Folge ist ihr Name der am häufigsten eingegebene Suchbegriff im Netz. Als 2005 die Videoplattform Youtube online geht, erklärt ihr Gründer Jawed Karim, "Nipplegate" habe ihn dazu inspiriert: Es sei viel zu schwer gewesen, ein hochauflösendes Video von Jacksons Brust zu finden.

Heute fände man dieses Eingeständnis wohl eher widerlich, damals taugt es als launige Anekdote. Jacksons unfreiwillige Nacktheit bleibt ein salonfähiger Gag, selbst unter Menschen, die ihr wohlgesonnen sind. Als sie Oprah Winfrey das einzige Interview zu "Nipplegate" gibt, fragt diese vor einem lachenden Publikum: "Finden Sie nicht, Timberlake hat sie da draußen … hängen lassen?"

Jackson zu Gast bei Oprah Winfrey.
OWN

Nachdem sie die Formulierung gequält weggelächelt hat, antwortet Jackson zögerlich: Doch, finde sie schon, zumindest ein bisschen. Denn der Skandal hat noch eine weitere, persönliche Ebene: Als Timberlake noch Frontmann der Boyband N'Sync war, förderte der Superstar Jackson ihn. Sie engagierte die Gruppe als Vorband für ihre Welttournee 1998 und verhalf ihr so zum Durchbruch. Doch nach dem gemeinsamen Auftritt beim Super Bowl ist Jacksons Karriere schwer beschädigt. Ihre nächsten drei Alben landen allesamt auf der "schwarzen Liste", ihr Erfolg reicht an jenen früherer Zeiten nicht mehr heran. Timberlake hingegen tritt 2018 sogar wieder bei einem Super Bowl auf. Er singt das gleiche Lied wie damals – doch bevor er die berühmt-berüchtigte Zeile erreicht, hebt er die Hand, ruft "Stopp!" und blickt mit breitem Grinsen ins Publikum.

Späte Reue

Im Februar 2021, 17 Jahre nach "Nipplegate", veröffentlicht er dann auf Instagram eine Botschaft an die Frauen, von deren Fall er im Lauf seiner Karriere profitiert hat. "Ich möchte mich besonders bei Britney Spears und Janet Jackson entschuldigen", schreibt er. "Diese Frauen sind mir wichtig, und ich respektiere sie. Ich weiß, dass ich versagt habe." Jacksons Fans reagieren, indem sie ihr legendäres Album "Control" so oft streamen, dass es nach Jahrzehnten wieder an die Spitze der Charts rückt.

Der Trailer zur zweiteiligen Dokumentation.
Janet Jackson

Die Sängerin selbst reagiert – zumindest öffentlich – nicht auf die Entschuldigung. Im September 2021 kündigt sie eine zweiteilige Dokumentation an, die im Jänner kommenden Jahres erscheinen soll. "Das ist meine Geschichte, von mir erzählt, nicht durch die Augen eines anderen", hört man Jacksons Stimme im Trailer. "Das ist die Wahrheit. Ob du es akzeptierst oder nicht, ob du es liebst oder hasst: Das bin ich." Im Hintergrund läuft – wie könnte es anders sein – ihr Song "Control". (Ricarda Opis, 17.9.2021)