Der Nischel, wie die Bevölkerung das Karl-Marx-Monument wenig ehrfürchtig nennt, steht seit 50 Jahren im Stadtzentrum.

Foto: Lutz Jäkel

"Mir ging der Arsch auf Grundeis", erzählt Uwe Dziuballa in breitem Sächsisch von jenem Sommerabend, als er und zwei Freunde in seinem Lokal Schalom saßen und er kurz vor die Tür ging. Draußen stand "eine dunkle Wand" von etwa einem Dutzend Männer. "Judensau, verschwinde", habe er gehört, dann prasselten Gegenstände auf ihn ein, ein Pflasterstein verletzte seine Schulter. Er wich zurück, schloss die Tür, rief die Polizei.

Es ist Montag, der Ruhetag im Restaurant, und Dziuballa, der studierte Elektrotechniker, Bankkaufmann und "Freund der Zahlen", hat vom Überfall schon sehr oft erzählt. Man merkt dem bodenständigen Wirt, der nie um eine Pointe verlegen scheint, trotzdem an, wie nahe ihm die Erinnerung geht.

Der rechte Mob

Zuletzt rekapitulierte Dziuballla vor Gericht jenen Abend des 27. August 2018, als der rechte Mob zu Tausenden durch die Straßen von Chemnitz zog. Vor einer Woche ist einer der Täter von damals, der mittels Zufallstreffer in der DNA-Datenbank in Hamburg geschnappt werden konnte, nicht rechtskräftig verurteilt worden. Seine einjährige Haftstrafe ist zur Bewährung ausgesetzt. Seine Mittäter bleiben unbekannt und unbehelligt.

Der Wirt Uwe Dziuballa vor einem Wandgemälde des Künstlers Jewgeni Podlewski in seinem Lokal Schalom. Das Bild zeigt rechts Chemnitz, links Jerusalem und in der Mitte das Logo des Lokals: zwei Weingläser, die einen Davidstern bilden.
Foto: Lutz Jäkel

Ob er von dem Urteil enttäuscht sei? Dziuballa winkt ab. Er sei schon froh, "dass es überhaupt zu einem Prozess kam". "Irgendeine Art von Reue" hätte er freilich schon gerne von dem Mann gehört, räumt er ein, "aber da kam gar nichts".

Der August 2018 hat in Chemnitz das Leben in ein Vorher und ein Nachher geteilt. Nachdem ein später zu mehreren Jahren Haft verurteilter Asylwerber den Deutsch-Kubaner Daniel H. am Rand des Chemnitzer Stadtfests mit einem Messer getötet hatte, organisierten rechtsextreme Gruppen Massenaufmärsche durch die Stadt. An deren Rändern kam es zu Übergriffen und Hetzjagden auf Migranten. Später reagierte man mit Gegendemos und den Wir-sind-mehr-Konzerten.

Randnotiz

Geht es nach Dziuballa, wird der Überfall "eine Randnotiz in der Geschichte unseres Lokals" bleiben, das sich für seine koschere Küche mit einer Michelin-Empfehlung schmücken darf. Bei ihm habe er zumindest das Verhältnis zur Polizei verbessert. Die jungen Beamten, die an diesem Abend kamen, seien "empathisch und kompetent gewesen", sagt der großgewachsene 56-Jährige. Und eine Sekunde wirkt er sehr verletzlich, als er sagt: "Ich habe sie damals sogar gebeten, noch ein bisschen zu bleiben."

Dass man den Täter in Hamburg fand, überraschte Dziuballa nicht: "Ich habe da draußen damals kein Sächsisch vernommen. Was da durch die Stadt zog, war auch viel Neonazi-Tourismus."

Jahrelang war das anders, insgesamt vier Mal legte man etwa Schweineköpfe mit aufgezeichnetem Davidstern vor seiner Tür ab oder schrie ihm "Heil Hitler" zu, wenn er vor sein Lokal trat. Er kam sich bei den Behörden nur lästig vor, "wie ein Netzbeschmutzer". Irgendwann zeigte er das alles nicht einmal mehr an, jahrelang blieb das so. Jetzt nimmt man ihn ernst.

"Läppisches Urteil"

"Als Politiker über Urteile zu urteilen ist immer schwierig", weicht Sven Schulze, der Oberbürgermeister von Chemnitz, wenig später im prachtvollen Sitzungssaal des Rathauses aus, als auch er vom STANDARD nach seiner Meinung zum Strafmaß gefragt wird. Der SPD-Politiker, der erst vor ein paar Monaten zum Stadtoberhaupt wurde, nennt es dann doch "ein läppisches Urteil, aber es ist wichtig, dass es wenigstens vergleichsweise schnell diesen Prozess gab".

Der Chemnitzer Oberbürgermeister Sven Schulze von der SPD sagt, man müsse den Rechtsextremen im Stadtrat "auch Kante zeigen", etwa wenn sie ihre Masken nicht aufsetzen.
Foto: Lutz Jäkel

Auch Schulze betont, dass Rechtsextremismus "kein ureigenes Chemnitzer Thema ist". Man sei Brennglas und Anziehungspunkt für Neonazis in Sachsen und bundesweit, das habe man auch an den Autokennzeichen am Rande von Demos gemerkt.

Doch manche Rechtsextreme sind schon lange da oder kamen kürzlich, um zu bleiben. So sitzen unter den 60 Mandataren im Stadtrat der ehemaligen Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz zu DDR-Zeiten hieß, insgesamt 14 Abgeordnete von AfD und Pro Chemnitz bzw. Freie Sachsen, wie sich die Partei um den rechtsextremen Anwalt Martin Kohlmann seit heuer nennt. War Pro Chemnitz mitverantwortlich für die Organisation der rechten Demos 2018, organisiert man heute die Corona-Demos.

In seinem Haus, in einem Hinterhof nahe dem Stadtzentrum, finden bekannte Rechtsextreme Unterschlupf und Jobs. Zuletzt zog etwa der bekannte Rechtsextremist Michael Brück von der Kleinpartei Die Rechte aus Dortmund nach Chemnitz, um bei Kohlmann zu arbeiten.

Auf die Rechten in seinem Stadtrat angesprochen, seufzt der sonst tiefenentspannt wirkende Oberbürgermeister: "Man muss schon auch Kante zeigen", sagt Schulze, "den Herrn Andres (Robert Andres, in der Kampfsportszene aktiver Rechtsextremist von den Freien Sachsen, Anm.) habe ich schon mal aus dem Stadtrat entfernen lassen, weil er die Maske nicht getragen hat. Eine andere Dame hat wegen der Maske einen Ohnmachtsanfall simuliert." Er habe die Rettung gerufen. "Die haben sie mitgenommen. Is' gut."

Wasserstoff und Kultur

Lieber spricht Schulze von erfreulicheren Dingen. Zuallererst über die Kulturhauptstadt Europas, die Chemnitz 2025 sein wird. Im Bewerbungsprozess, der schon 2017 begann, gab es auch ein Vorher und ein Nachher wegen der rechten Demonstrationen, "wo auch viele naive Bürger mitliefen", wie Schulze sagt. Man baute das Neonazi-Problem nämlich ungewöhnlich offensiv in die Bewerbung ein.

2020 legten die Künstlerinnen Anetta Mona Chişa und Lucia Tkáčová auch den Darm von Karl Marx in den Schillerpark – maßstabsgetreu und als Gegenstück zur übermächtig patriarchalen Darstellung des Kopfes von Marx. Die Skulptur wurde im Zuge des Festivals "Gegenwarten" aufgestellt und erfreut sich nun bei Kindern größter Beliebtheit.
Foto: Lutz Jäkel

Wenn man das wunderschön gebundene Buch zur Kulturhauptstadt 2025 aufschlägt, sieht man gleich auf der ersten Seite den Artikel aus der "New York Times" zu den "Mob Protests in Germany" von 2018 und wird wie in einer akustischen Grußkarte von Klängen der Chemnitzer Band Kraftklub begrüßt.

Die vielleicht überraschende Strategie hat funktioniert. Chemnitz bekam den Zuschlag. Vielleicht eine politische Entscheidung, denn man hofft wohl, dass die über 60 Millionen Euro für die Stadt des Malers Karl Schmidt-Rottluff oder des Schriftstellers Stefan Heym auch weiter verstärkt in demokratiefördernde Projekte fließen werden.

Aber auch dass Chemnitz ein Standort für das nationale Wasserstoffzentrum wird, wie vor einigen Tagen bekannt wurde, zaubert ein Lächeln auf Schulzes Gesicht. Ein modernes Forschungszentrum soll nahe der Technischen Universität entstehen. Man erwartet sich dort 100 neue Arbeitsplätze, durch die Infrastruktur rundherum noch mehr.

Zum Zug kommen

Auch dass ab 2022 endlich wieder zumindest zweimal täglich ein Direktzug nach Berlin fährt, macht Hoffnung. Derzeit muss man, um per Bahn die 190 Kilometer entfernte Bundeshauptstadt zu erreichen, in Leipzig umsteigen und ist drei Stunden unterwegs. Das war vor der Wende, als noch über 300.000 Menschen statt der knapp 244.000 in der Industriestadt lebten, anders.

"Wenn du mich küsst, kommen unsere Freunde zurück nach Berlin": Diese Zeile aus dem Kraftklub-Song hat plötzlich einen sehr traurigen Beigeschmack.

"Abgehängt kamen sich die Leute nach der Wende hier vor", sagt wenig später beim Spaziergang über den fast menschenleeren Brühl die grüne Kandidatin für die Bundestagswahl, Karola Köpferl.

Die grüne Kandidatin Karola Köpferl in der Skulptur "Zuhause" von Frank Raßbach und Helena Rossner auf dem Brühl-Boulevard.
Foto: Lutz Jäkel

Als ihre Oma jung war, war der Brühl-Boulevard, wo eine Kunstinstallation in großen silbernen Lettern das Wort "Zuhause" formt, noch eine Flaniermeile. Hier wurde unter anderem mit Wohnungen spekuliert, seit Jahren versucht man das Viertel nun wiederzubeleben.

Nicht abhauen

Auch das Leben der 31-jährigen Sozialpädagogin haben die Ausschreitungen 2018 verändert: "Ich dachte, okay, du kannst jetzt nicht einfach abhauen." Also beschloss sie, sich politisch zu engagieren, und schloss sich den Grünen an. So haben sich das die Rechtsextremen wohl nicht vorgestellt.

Für die Linke kandidiert in Chemnitz der 42-jährige Tim Detzner für den Bundestag. Wie auch Köpferl hält er die Kulturhauptstadt für eine gute Sache. Aber alle Probleme wird sie nicht lösen, glaubt der Vater zweier Kinder, der im Garten hinter dem Parteibüro erzählt, wie ihm "14-jährige Jungs am Infostand 'Heil Hitler, wir kriegen euch alle' entgegenbrüllen". Das seien bereits die Kinder der Neonazis, die sich hier in den 1990er-Jahren nach der Wende in einem Vakuum und der Frustration etabliert hätten, so Detzner. Der Linke, der sich seit 20 Jahren gegen Faschismus und Rassismus einsetzt, sieht aber auch – wie der Wirt Dziuballa – Fortschritte in der Polizeiarbeit in Chemnitz, wo es "einen Generationswechsel gegeben hat". Dass ihn etwa ein hoher Polizeibeamter vor einer Demo anruft und mit ihm freundlich die Lage bespreche, das habe es nicht gegeben, solange ein Bayer Polizeipräsident von Chemnitz war.

Tim Detzner, Antifaschist und Kandidat der Linken, warnt, dass die Neonazis Chemnitz als "ruhiges Hinterland" für ihre Strukturen nutzen.
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Doch Detzner will sich nicht mit dem Narrativ "So schlimm sind wir doch gar nicht" zufriedengeben. Er schätzt die Lage so ein, dass die Rechtsextremen in der Stadt "die Füße seit 2018 stillhalten, damit sie Chemnitz als ruhiges Hinterland für Nazistrukturen halten können". Die rechte Versand- und Musikszene, die europaweit gut vernetzt sei, könne hier ungestört ihrer Arbeit nachgehen. Derweil können sie aber "in Chemnitz und im Erzgebirgsraum über ihre Telegram-Kanäle extrem kurzfristig auch schnell hunderte Leute zu Aktionen mobilisieren". Von Chemnitz aus baue man auch mit einer radikalisierten bürgerlichen Mitte "Brücken ins Umland".

NSU-Komplex

Genauso sieht das die Soziologin Hannah Zimmermann vom Projekt Offener Prozess, das von öffentlichen Geldern von Bund, Land und Stadt gefördert wird, um den NSU-Komplex aufzuarbeiten. "Sie sind hier immer noch", sagt Zimmerman in ihrem Büro in Chemnitz und meint das ganze Unterstützungsnetzwerk der NSU-Terroristen, die lange in Chemnitz im Untergrund lebten und hier ihre Morde durch zahlreiche Banküberfälle finanzierten.

Hannah Zimmermann arbeitet zum NSU-Komplex in Chemnitz und warnt: "Sie sind hier immer noch."
Foto: Lutz Jäkel

Man beschäftigt sich nach Abschluss des Prozesses und des Untersuchungsausschusses, den das Team um Zimmermann begleitete und dokumentierte, nicht nur mit den Tätern, sondern auch mit den Opfern. Das Projekt will eine "Sensibilisierung der Gesellschaft für Rassismus und Empathie für die Opfer erzeugen", sagt Zimmermann. Das passiert etwa über Unterlage für Schulen und eine vielgelobte Wanderausstellung, die ab 1. Oktober auch im Berliner Maxim-Gorki-Theater Station macht.

Radikale Töchter

Mit Jugendlichen und an Schulen arbeitet auch die Berliner Gruppe Radikale Töchter um die langjährige Künstlerin Cesy Leonard, die fast zehn Jahre führende Aktivistin im Zentrum für politische Schönheit war. Ebenfalls öffentlich gefördert, machen die Radikalen Töchter politische Bildung und Demokratieförderung an Schulen in den neuen Bundesländern. Am vergangenen Wochenende konnte man ihnen im alternativen Zentrum Kulturbahnhof in Chemnitz bei einem Workshop über die Schulter schauen.

Cesy Leonard (links) in der Kulturfabrik Chemnitz. Die ehemalige Chefin des Planungsstabs des Zentrums für Politische Schönheit hält jetzt Workshops mit ihrer Gruppe "Radikale Töchter". Sie will den jungen Menschen in den neuen Bundesländern aktionistisches Handwerk mitgeben, damit sie ihre Anliegen artikulieren können.
Foto: Lutz Jäkel

Sie wolle "jungen Menschen das Gefühl der Ohnmacht nehmen, Mut machen, sich für Demokratie und ihre eigenen Belange einzusetzen", erzählt Leonard. Man müsse nicht gleich die Welt retten, man könne einmal im eigenen Umfeld beginnen. Diesmal gehe es um das Aufbrechen von Männerbünden.

Beim Workshop der "Radikalen Töchter" wurden Strategien entwickelt, wie auch weibliche Themen wie Menstruation öffentlich gemacht werden können. Vor allem Machenschaften von Naziklubs und Verbänden will man nicht länger akzeptieren.

Am Ende des Workshops präsentieren vier Gruppen von Mädchen und jungen Frauen und auch junge Männer durchaus kreative Aktionen. Ein Mädchen resümiert: "Wir wollen die Nazis möglichst effektiv und maximal nerven." (Colette M. Schmidt aus Chemnitz, 15.9.2021)