Wann genau es begann? Herr Willi schüttelt den Kopf. Nein, sagt er, genau wisse er das nicht. "Ist das denn wichtig?" Er selbst, sagt Herr Willi, sei jetzt seit seiner Pensionierung hier. Das war 2011. Täglich. Anfangs als Schüler. Später hin und wieder als Lehrer, wenn Herr Li nicht konnte. Und seit dem Tod von Herrn Li leitet er die Gruppe. Jeden Tag. Ja, auch bei Regen oder Schnee: Um Punkt acht Uhr steht Herr Willi von der Parkbank vor dem Theseustempel auf, ruft "Guten Morgen" – und beginnt mit dem Training.

Hoch! Locker! Kraft!

Während ein paar Jogger ihre Runden durch den Volksgarten drehen und die ersten Büromenschen vorbeihasten, gibt Herr Willi Anweisungen: "Arm links kreist. Hoch! Locker! Kraft! Eins. Hoch! Locker! Kraft! Zwei …" Der Platz ist voll. 20, manchmal auch 40 Menschen stehen fast immer hier. Wärmen mit Herrn Willi eine halbe Stunde auf. Dann folgt eine halbe Stunde Tai-Chi, dann Qigong. Jeden Tag. Aber wann genau das begann? Herr Willi schüttelt den Kopf: "Ist das denn wichtig?"

Jeden Tag, bei jedem Wetter trifft sich die Gymnastikgruppe vor dem Theseustempel im Wiener Volksgarten.
Foto: Christian Fischer

Yin und Yang vor dem Tempel

Nein, ist es nicht. Das Unpräzise, das Vage, ist das Yin und Yang dieser Geschichte. Einer Geschichte, die nur zwei Konstanten hat: die Verlässlichkeit, mit der Herr Willi die Sockelinschrift der Modelathletenstatue vor dem Theseustempel allmorgendlich konterkariert – und mit der der 72-Jährige zeigt, dass Gesundheit und Fitness alterslos sind. Dass gesunde Bewegung kein Geschäfts-, sondern ein Wohlfühlkonzept ist: "Der Kraft und Schönheit unserer Jugend" steht am Denkmalsockel – das verdichtete Glaubensbekenntnis der Generation Fitnesswahn, die nicht altern zu dürfen glaubt.

Es gibt hier aber noch etwas, was das tägliche Tai-Chi-Training im Volksgarten aus der Masse der Fitness-, Wellness- und Achtsamkeitskurse hervorhebt: Herr Willi nimmt kein Geld. So wie schon Herr Li. "Ist gratis. Ist für Gesundheit. Ist für Welt", soll Li stets gesagt haben, wenn ihm jemand einen Schein in die Hand drücken wollte. Oder wenn jemand fragte, ob er mitmachen dürfe. Herr Li lud mit einer kleinen Handbewegung ein: "Komm, mach mit!" So "erwischte" er etwa die vorbeijoggende Kultur- und Sozialanthropologin Brigitte Lehner. "Ich blieb stehen – und daraus wurden viele Jahre." Wie viele? "Ist das wichtig?"

Eine Turngruppe als Familie

Wichtiger sagt Lehner, sei die Geschichte von Herrn Li. Der indischstämmige Chinese sei vor über 30 Jahren nach Österreich gekommen. Seine Frau Lisa – "es war eine arrangierte Ehe, ihre einzige Chance, der Armut zu entkommen" (Lehner) – ein paar Jahre später. Li war Koch. Dann, so wie auch Lisa, Friedhofsgärtner. Er lehrte Tai-Chi auf Parkplätzen in Simmering und Favoriten. Den Theseustempel "entdeckte" er um 2008 und unterrichtete hier bis 2019. Seit 2017 unterstützte und seit Lis Tod im Mai 2019 leitet Herr Willi die Kurse. Hin und wieder vertritt ihn die Wiener Fotografin und Öffentlichkeitsarbeiterin Veronika Maierhofer.

Herr Li war für seine Gruppe mehr als ein Gymnastiklehrer. Seine Community, das waren nicht einfach Schüler: "Es mag pathetisch klingen, aber der Unterricht war sein Geschenk an die Welt. Er hat die Turngruppe als Familie gesehen, die er sich in der Fremde geschaffen hat", sagt Lehner. Diese Familie war offen für alle. Nur Geld hatte darin keinen Platz. Als Li einmal eine Geldbörse im Park fand, verweigerte er den Finderlohn. Bis jemand vorschlug, das Geld in Nordic-Walking-Sticks "für alle" zu investieren. An Freitagen brachte er oft Fischköpfe mit – die abzuschneiden er den Koch "seines" Chinarestaurants angehalten hatte. Das Verteilen machte ihn glücklich. Und zum chinesischen Neujahrskonzert im Musikverein gab es oft Tickets für alle.

An der Verordnung verzweifeln

Der Volksgarten ist ein Bundesgarten. Die ihn verwaltende Burghauptmannschaft beobachtete das Treiben lange mit Argusaugen. Wenn jemand jahrelang "pro bono" unterrichtet, ist das verdächtig. Doch sogar als Ministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) die Bundesgärten im Vorjahreslockdown schloss, ging es auf dem Heldenplatz (mit Masken und Fünf-Meter-Abständen) weiter.

Als die Parks dann wieder geöffnet wurden, kam eine Verordnung: Trainingsgruppen in den Bundesparks hätten nun den gleichen Tagsatz wie Werbefilmer und "Eventer" zu entrichten. Rund 1.000 Euro Platzmiete. Pro Tag. "Verzweifelt", sagt Veronika Maierhofer, die dem im Amtsdeutschen nicht immer ganz sattelfesten Chinesen schon lange hilft, würde das Entsetzen, dass das auslöste, nicht einmal ansatzweise beschreiben. Freilich: Bis heute haben weder die Theseus-Gymnastiker noch eine der vielen Yoga-Kleinstgruppen in anderen Bundesparks Probleme bekommen.

Willi Hsu achtet darauf, dass Herrn Lis Vermächtnis erhalten bleibt.

Foto: Christian Fischer

Als Herr Li gesundheitliche Probleme bekam, sprang Willi ein. Die beiden hatten einander schon in Indien gekannt, dann aber aus den Augen verloren: Willi fuhr als Schiffsmechaniker um die Welt. Auf 1000 (Um)Wegen verschlug es ihn nach Österreich. Hier traf er Li wieder, der holte ihn – Willi hatte berufsbedingte Rückenschmerzen – zum Theseustempel. "Ein alter Schmerz geht nicht einfach weg. Die tägliche Gymnastik hält mich gesund", sagt er. Nicht nur ihn: Es ist kurz vor acht Uhr. 30 Augenpaare schauen zur Bank neben der Statue. Herr Willi steht auf: "Guten Morgen!"

Was wirklich wichtig ist

Natürlich haben sowohl Herr und Frau Li als auch Herr Willi auch ganze, bürgerliche Namen. Herr Li hieß Li Chi Chang. Frau Li heißt nicht Lisa, sondern Li Xiou Yu. Herr Willi sagt, er sei Willi Hsu. Doch diese Namen kennen meist nicht einmal die, die hier regelmäßig praktizieren. Die Burgtheatersouffleuse. Die persische Modeladenkettenbetreiberin. Die philippinischen Krankenschwestern. Der afghanische Essensfahrradbote. Der austro-ungarische Unternehmer. Die Frauenlauf-Trainerin. Manchmal, früher, auch Heinz Fischer auf dem Weg in die Präsidentschaftskanzlei.

Oder Bernd Marin. Der Sozialwissenschafter kommt fast täglich und erzählt, wie begeistert Kinder mitmachen. Wie in Passantengesichtern ein Lächeln aufleuchtet, wenn sie vorbeigehen. Und wie resolut eine führende Staatskulturerbemanagerin täglich quer durch die Übenden marschierte, "bis jemand betont laut ‚Guten Morgen, Frau Dr. X‘ rief". Seither weicht sie weiträumig aus.

Wer das ist? Herr Li und Herr Willi vermitteln mehr als Gymnastik und Bewegung. Sie geben Menschen noch etwas mit: eine Idee davon, was wirklich zählt. Das Wiener Revanchefoul passt da nicht rein. Deshalb lächelt Bernd Marin bei der Frage nach dem Namen: "Ist der denn wichtig?" (Thomas Rottenberg, 15.9.2021)