Der Fokus wird vor Gericht noch immer zu sehr auf das Verhalten von Frauen gerichtet, sagt Christina Clemm.

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Mehrere prominente Männer sind in Deutschland aktuell mit Vorwürfen häuslicher Gewalt oder sexueller Übergriffe konfrontiert. So sorgte ein Vergewaltigungsvorwurf gegen Rapper Samra für eine #MeToo-Debatte im Deutschrap. Profifußballer Jérôme Boateng wurde vor kurzem wegen vorsätzlicher Körperverletzung an seiner früheren Lebensgefährtin verurteilt – der "Spiegel" hatte zuvor über seine "toxische Beziehung" zu Model Kasia Lenhardt berichtet. Heftige Diskussionen löste auch ein Videostatement von Comedian Luke Mockridge aus, in dem er sich gegen Vergewaltigungsvorwürfe seiner Ex-Partnerin wehrt.

Rechtsanwältin Christina Clemm vertritt seit über 25 Jahren Frauen, die geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt erlebt haben. In ihrem 2020 erschienenen Buch "AktenEinsicht" berichtetet sie von ausgewählten Fällen und von "strukturellen und systematischen Schwächen der Justiz und Strafverfolgungsbehörden". Ein Gespräch über Victim-Blaming, über Vergewaltigungsmythen im Gerichtssaal und Gegenwind für die #MeToo-Bewegung.

Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Sie ist Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht in Berlin.
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STANDARD: Wenn prominente Männer mit Vorwürfen sexualisierter oder anderer Gewalt konfrontiert sind, erzählen sie häufig von emotionalen (Ex-)Partnerinnen, von psychischen Problemen und Rachegelüsten. Eine gängige Strategie von Beschuldigten?

Clemm: Ja, und das finden wir nicht nur bei prominenten Beschuldigten. Insgesamt wird Gewaltbetroffenen oft unterstellt, dass sie aus Rache handeln würden, dass es ihnen um Geld gehe, dass sie psychisch erkrankt seien oder sie Vorkommnisse falsch wahrgenommen hätten oder einfach lügen. Es gibt eine ganze Klaviatur an Victim-Blaming. So wird versucht, die Vorfälle in ein anderes Licht zu rücken.

STANDARD: Was macht es mit Betroffenen, wenn ihre Glaubwürdigkeit fundamental infrage gestellt wird?

Clemm: Auf der Ebene des Strafverfahrens ist es natürlich zulässig und richtig, eine Aussage zu überprüfen. Die Frage ist aber vielmehr, in welcher Form das geschieht. Gehe ich grundsätzlich davon aus, dass man Betroffenen sowieso nicht glauben kann, weil Frauen immer lügen, um es mal platt zu sagen – oder frage ich mich, warum sie denn eine falsche Anzeige tätigen sollte? Stimmt es denn überhaupt, dass es Vorteile aus einer Falschaussage gibt? Ich plädiere für ein Vorgehen, in dem grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass die Person, die von Gewalt erzählt, möglicherweise genau das erlebt hat – und so ist sie auch zu behandeln. Das heißt noch nicht, dass es bei einer Konstellation Aussage gegen Aussage ausreicht, eine beschuldigte Person zu verurteilen.

Der Zweifelsgrundsatz ist im Strafprozess unbedingt anzuwenden. So kann eine Person vielleicht nicht verurteilt werden, im Umkehrschluss darf daraus aber auch nicht abgeleitet werden, dass die andere Person gelogen hat. Genau dies wird ein einem Strafverfahren nicht festgestellt, sondern vielmehr, ob ohne jeden Zweifel eine beschuldigte Person verurteilt werden kann. Wenn Betroffene respektlos behandelt und durch den Dreck gezogen werden, dann verschärft dies für sie die Folgen der Taten. Es führt letztendlich auch dazu, dass viele es gar nicht wagen, das Erlebte öffentlich zu machen. Das ist das Gegenteil von Prävention.

Christina Clemm, "AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt". 20,95 Euro / 208 Seiten, Kunstmann-Verlag, München 2020
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STANDARD: In Basel schlug vor kurzem ein Urteil hohe Wellen. Das Berufungsgericht setzte die Strafe für eine Vergewaltigung mit der Begründung herab, die betroffene Frau habe falsche Signale ausgesendet, da es vor der Tat zu einer sexuellen Begegnung mit einem anderen Mann gekommen sei. Außerdem sei der Übergriff mit elf Minuten relativ kurz gewesen. Welche Rolle spielen sogenannte Vergewaltigungsmythen vor Gericht?

Clemm: Leider noch immer eine sehr große, denn man geht von völlig falschen Vorannahmen aus. Meiner Ansicht nach darf sich jede Person so verhalten, wie sie das möchte. Sie darf nackt auf dem Tisch tanzen oder mit jedem rumknutschen, wann immer sie möchte – und trotzdem hat kein anderer Mensch das Recht, sie gegen ihren Willen anzufassen, geschweige denn, Gewalt gegen sie auszuüben. Im Fall von sexualisierter Gewalt wird sich immer darauf konzentriert, wie sich das Opfer verhalten hat, dabei müsste der Blick auf den Täter gerichtet sein. Wie verhält er sich, warum denkt er, dass er Grenzen überschreiten darf, ein Nein nicht akzeptieren muss? Warum sollte denn das Verhalten des Opfers strafmildernd sein? In diesem Schweizer Urteil wurde festgestellt, dass der Täter sie vergewaltigt hat. Macht es das weniger gravierend, weil es sich um eine sexuell aktive Person gehandelt hat? Eine solche Begründung zeigt die Berufung auf patriarchale Wertvorstellungen mit ihren spezifischen Frauenbildern.

STANDARD: Hat sich in den vergangenen Jahren – vor allem im Zuge der #MeToo-Bewegung – gesellschaftlich etwas bewegt? Gibt es eine größere Sensibilität für Übergriffe, finden Betroffene eher den Mut, über sexuelle Gewalt zu sprechen?

Clemm: Ich glaube, dass durch #MeToo einer großen Öffentlichkeit bekannt wurde, dass sexualisierte Gewalt alle treffen kann, egal in welchem Zusammenhang oder wie man lebt. Ob man berühmt ist oder nicht, ob man arm ist oder reich. Das ist ein großer Vorteil, deshalb trauen sich möglicherweise mehr Personen, darüber zu sprechen. Andererseits ist aber auch die Gegenreaktion riesig. Da heißt es jetzt etwa, dass sich jede ihre eigene kleine #MeToo-Geschichte einfallen ließe und auf die Bewegung aufspringe, mit der Konsequenz, dass man den Betroffenen nicht glauben könne.

Außerdem gibt es oft massive Unterlassungsforderungen – der große Streit wird gar nicht im Strafgericht ausgetragen, sondern äußerungsrechtlich. Wenn eine Person öffentlich erzählt, was ihr widerfahren ist, muss sie mit Unterlassungsaufforderungen und der Drohung von hohen Geldauflagen rechnen. In diesem Bereich gibt es viele oft kostspielige Auseinandersetzungen, was dazu führt, dass es Betroffene nur sehr schwer wagen können, über das Widerfahrene zu sprechen. Zusätzlich existiert gegen die #MeToo-Bewegung dieses misogyne Narrativ der Lustfeindlichkeit. Dabei ignorieren die Kritiker*innen, dass es um konsensuale Lust für alle geht. Auf der einen Seite ändert sich also langsam das Bewusstsein dafür, wie viele Betroffene es tatsächlich gibt. Man darf aber niemals verkennen, wie groß auch die Gegenbewegung ist. (Brigitte Theißl, 16.9.2021)