Der Wahlkampf für den Deutschen Bundestag neigt sich seinem Ende zu. Was daran vor allem anderen auffällt: Kaum jemand spricht von politischen Parteien. Es scheint allein um die Kanzlerkandidaten und die Kanzlerkandidatin zu gehen, Olaf Scholz, Armin Laschet und Annalena Baerbok. Die Menschen orientieren sich an Persönlichkeiten, nicht oder kaum mehr an Parteiprogrammen.

Kann man in Österreich dasselbe Phänomen feststellen? Was in Deutschland geschieht, geschieht meist hierzulande auch, wenngleich mit einiger Verspätung. Aber auch bei uns heißt Türkis für die meisten Wähler heute Sebastian Kurz, SPÖ heißt, je nachdem, Pamela Rendi-Wagner oder Hans Peter Doskozil, und FPÖ heißt Herbert Kickl. Bei Grünen und Neos gilt Ähnliches.

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Die Kanzlerkandidaten Olaf Scholz und Armin Laschet sowie die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbok.
Foto: dpa/Michael Kappeler

Wirklich treue Wähler gibt es vor allem bei den historischen großen Parteien und vor allem bei den Alten. Die Jungen sind ungebundener. Kein Wunder, dass die Meinungsforscher immer mehr Unentschlossene registrieren und sich bei Vorhersagen von Wahlergebnissen immer schwerer tun.

Flexibilität gibt es auch auf regionaler Ebene. Nicht wenige Österreicher, vor allem aus der urbanen Mittelschicht, würden heutzutage in Wien Rot wählen, in Innsbruck Grün und in Bregenz Schwarz. Der klassische Sozialdemokrat alter Schule scheint ebenso rar geworden zu sein wie der klassische Christdemokrat und der klassische Freiheitliche. Sozialdemokrat sein hieß einst: für die Armen, gegen die Reichen. Aber wenn die Armen Zuwanderer von anderswo sind? Hier scheiden sich die Geister. Die Kurzformel für Christdemokraten lautete: für bürgerliche Werte. Aber was sind heute bürgerliche Werte?

Gegen-alles-Haltung

Am deutlichsten zeigt sich die Veränderung im dritten Lager. Hier war das einigende Band lange Zeit das Bekenntnis zum Großdeutschtum. Man verehrte Bismarck und betrachtete Österreich als legitimen Teil der deutschen Nation. Damit hat man heute gebrochen und pflegt stattdessen eine Art von älplerischem Heimatgefühl. Wirklich charakteristisch für die meisten freiheitlichen Wähler scheint aber eine gewisse ressentimentgeladene Gegen-alles-Haltung zu sein: gegen Ausländer, gegen das Impfen, gegen das "System". Wer die jüngsten Demonstrationen gegen den angeblichen "Impfzwang" beobachtet hat, konnte diese seltsame Mischung an den Plakaten und Reden deutlich erkennen.

"Ich bin in der Wirtschaft ein Linker, in der Politik ein Liberaler, in der Kultur ein Konservativer", sagte einmal der US-amerikanische Politologe Daniel Bell über sich selbst. Er ist mit diesen gemischten Loyalitäten heute sicher nicht der Einzige.

Die Wähler, in Deutschland wie anderswo, verlassen sich vielfach nicht mehr auf die vertrauten Parteinamen, sondern prüfen die Persönlichkeiten, die um ihre Stimmen werben, deren konkrete Politik, deren Zugang zu den Themen, die ihnen selbst am wichtigsten sind. Das Wählen ist komplizierter und unübersichtlicher geworden.

Wie sich das auswirkt, werden wir am Sonntag (26. 9., Anm. ) nach der Deutschland-Wahl sehen können. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 16.9.2021)