Als Sohn einer Trinkerin 1976 in Glasgow geboren, jetzt Modedesigner in New York: Douglas Stuart.

Foto: Clive Smith

Kleidung und Schönheit spielen eine große Rolle im Roman Shuggie Bain von Douglas Stuart. Wenn der kleine Shuggie seiner Mutter die Haare bürstet, ist diese tickende Bombe nämlich kurz entschärft. Dank des Versprechens, sie dürfe beim Frisiertwerden einen Schluck trinken, kann Shuggie sie von ihrer Sauftour zurück ins Haus locken. Dort kämmt er sie dann, bis sie eindöst. Ist Shuggies Mutter Agnes hingegen nüchtern, leert sie ihren Schmuck auf die Kommode und spielt mit dem Sohn Juwelier oder wählt Dessous für Dates aus.

Shuggie Bain handelt vom Heranwachsen eines Burschen im extrem prekären Arbeitermilieu im Glasgow der 1980er mit einer alkoholabhängigen Mutter. Grundlage ist Stuarts (45) eigene Biografie. 2020 gewann sein Debüt den Booker Prize durchaus überraschend, denn eigentlich ist er Designer (Ralph Lauren, Calvin Klein). Diese Berufswahl wundert angesichts der Haaren und Lippenstift geschuldeten wenigen hellen Momente dieser Kindheit fast nicht. Außerdem ist Stuart ebenso wie Shuggie schwul.

Wunde Punkte

Es sei ihm ein Anliegen, diese Geschichte zu teilen, sagt der Autor bei jeder Gelegenheit. Dass man sie nicht als Einzelfall abtun kann, räumt auch Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon ein. Sie kenne solche Familien aus ihrer Kindheit. Stuart trifft wunde Punkte.

Etwa dass die Männer, so sie trotz der Schließung von Eisenwerken, Werften und Bergwerken noch Arbeit haben, freitags ihren Wochenlohn versaufen, bis nur mehr Kleingeld in ihren Taschen klimpert. "Kerle, die ihre Männlichkeit verloren", analysiert Stuart. Mutter Agnes zahlt indes mit fünf Pfund pro Woche das Sofa ab. Bahnhöfe werden von der Regierung Thatcher zwecks Einsparungen aufgelassen. Deshalb werfen die Ortsansässigen neuerdings Flaschen voll Urin an die Zugscheiben. Nachbarinnen werden ungewollt schwanger, weil der Ehemann, seit er den Job verloren hat, zum Zeitvertreib jeden Tag Sex will.

Stuart bewahrt sich einen angesichts der brutalen Verhältnisse unerwartet lockeren Tonfall, hat eine Hand für feinen Humor und einen Hang zu frivolen, schillernden Details. Das Buch ist süffig erzählt, doch man möchte ihm ankreiden, dass es das Elend irgendwann nur mehr variiert, statt es oder den Blick darauf weiterzuentwickeln. Noch ein Suff, noch ein Nachbarschaftsstreit. Man registriert Phasen mütterlicher Nüchternheit, den vergeblichen Versuch eines Neubeginns: "Agnes trank echten kalten Tee aus der Tasse, aus der sie früher heimlich Alkohol getrunken hatte." Doch bleibt der registrierende Blick auf Dauer an der Außenseite der Figuren kleben, statt tiefer in ihr Denken zu bohren.

Gefangen

Es mag ein Stilmittel sein, das Geschilderte im Grunde da anstehen zu lassen, wo auch der Horizont des Buben endet. Man ist mit Shuggie gefangen. Er möchte seine Mutter nicht allein lassen, geht er aber nicht in die Schule, schaltet sich das Jugendamt ein. Zusätzlich nimmt er sich immer stärker als anders wahr: "Shuggie wusste nicht, was eine Schwuchtel war, aber er wusste, dass es schlimm war." Ausgerechnet mit ihrer Ignoranz anderen Leuten gegenüber wird die Mutter zu seiner Komplizin, wenn er vor dem TV "wiegend" zu Janet Jackson tanzt.

Gut lesbar und aller Ehren wert, wäre doch noch mehr möglich gewesen. Stuart illustriert und zeigt, die Reflexionskraft eines Édouard Louis generiert Shuggie Bain nicht. (Michael Wurmitzer, 16.9.2021)