Als Ursula von der Leyen im Juli 2019 im Europäischen Parlament knapp zur ersten Frau an der Spitze der EU-Kommission gewählt wurde, musste sie viel Kritik – bis hin zum Hohn – einstecken. Die Staats- und Regierungschefs hätten sich wieder einmal auf eine schwache Person geeinigt, hieß es. Die Deutsche sei nur wegen des "non" Emmanuel Macrons gegen "Spitzenkandidat" Manfred Weber zum Zug gekommen.

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen.
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Zwei Jahre, eine Corona-Pandemie und die größte Weltwirtschaftskrise seit hundert Jahren später müssen viele wohl Abbitte leisten. So, wie sie ihre Rede zur Lage der Union vorgetragen hat, scheint klar: Von der Leyen ist ab sofort und zu Recht die Anchorwoman in einem Europa, das tief in der Krise steckt – nach Angela Merkels Abgang umso mehr. Regierungen verstricken sich zunehmend in nationalen Egoismen. Sie gibt dem Gemeinsamen Halt, nicht nur mit Programmen, gigantischen Investments in Wiederaufbau, Klimaschutz und Wachstum.

Das wirklich Neue ist die Empathie, mit der sie die Bürger direkt anspricht. So positiv, so optimistisch, fast liebevoll hat noch kein Kommissionschef etwa die Jugend des Kontinents ermuntert: Sie glaube an diese "gut ausgebildete, talentierte Generation", die sich redlich um die Zukunft der Welt sorge. Hörenswert auch, warum der Kampf um Rechtsstaatlichkeit und Werte – auch für Schwache – zwingend nötig ist. Das bewahre unsere Freiheit, den sozialen Zusammenhalt, letztlich "die Seele Europas". Gut, wenn das jemand "ganz oben" sagt. (Thomas Mayer, 15.9.2021)