Wie kleine aufgeregte Hunde springen Heuschrecken und andere Insekten an Margit Gross' Beinen hoch, während sie sich durch ein gelbes Blütenmeer und den steilen Hügel hinauf begibt. Es ist Mitte September, trotzdem sammeln sich die Schweißperlen heute schnell auf ihrer Stirn.

Gross ist Geschäftsführerin des Naturschutzbundes Niederösterreich und hat schon viele Hügel der Gegend bestiegen. Doch dieser, der Dernberg im zentralen Weinviertel, ist besonders: Hier findet sich einer der letzten Trockenrasen, ein selten gewordener Lebensraum. Trockenrasen sind für Österreich das, was das Great Barrier Riff für Australien ist: ein Hotspot der Artenvielfalt. Gelbe Schopfastern bedecken den Boden und vereinzelt wachsen auch Ruthenische Kugeldisteln, die es österreichweit nur noch auf den Weinviertler Trockenrasen gibt.

Pflanzenarten, die bestimmte klimatische Gegebenheiten wie einen kargen Boden, direkte Sonneneinstrahlung und damit einhergehend eine sehr hohe Trockenheit brauchen. Fühlen sie sich wohl, ziehen sie wiederum – oft seltene – Insekten wie bestimmte Falter- oder Heuschreckenarten an.

Schrittweiser Artenschutz

Der Dernberg ist auch noch aus einem anderen Grund besonders: Gemeinsam mit einigen anderen Biotopen im Umfeld bildet er einen Teil des sogenannten Grünen Bandes oder Green Belt. Auf 12.500 Kilometern zieht es sich entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs von der norwegisch-russischen Grenze im Norden bis nach Griechenland im Süden und ist somit das größte Naturschutzprojekt Europas.

Der Dernberg im zentralen Weinviertel ist ein wahrer Tummelplatz für viele verschiedene Pflanzen, Insekten und weitere Lebewesen.
Foto: Katharina Kropshofer

"Es war eine Grenzregion, zu der Menschen nicht wirklich Zutritt hatten. Das war für die Menschen furchtbar, aber viele Pflanzen und Tierarten konnten sich damals ohne großen Einfluss von außen entwickeln", erzählt Gross.

Naturschützer setzten sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs deshalb dafür ein, dass diese Ruhezone erhalten bleibt. Heute verlaufen 1300 Kilometer des Grünen Bandes auch durch fünf Bundesländer Österreichs. "Es ist kein durchgehendes Band, wie der Name vielleicht impliziert", so Gross. "Wir reden von einer Perlenkette, zu der streng geschützte Gebiete wie der Nationalpark Thayatal gehören, aber auch kleinere Gebiete wie der Dernberg."

Damit gefährdete Tier- und Pflanzenarten überleben können, müssen sich einzelne ihrer Populationen auch austauschen. Gendrift nennt man die genetischen Veränderungen einer Population. Das treibt die Evolution voran. Fliegen Samen in eine neue Gegend oder legt ein Schmetterling seine Eier auf einer entfernteren Fläche ab, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Genpool verändert und er sich so differenziert. Ist die genetische Drift nicht gegeben und bleiben zu viele Individuen einer Population auf derselben Fläche, kann es zu Inzucht kommen.

Von der Spitze des gelbgetupften Dernbergs sieht man die angrenzenden intensiv-landwirtschaftlich genützten Flächen. Der artenreiche Trockenrasen steht dazu in einem krassen Kontrast. Und er gilt so wie weitere Hügel in der Gegend als Refugium. "Wir müssen unterscheiden zwischen Korridoren und Trittsteinen", sagt Thomas Frank, Leiter des Instituts für Zoologie an der Boku in Wien. "Korridore sind eine direkte Verbindung zwischen mehreren, großen Habitaten. Trittsteine sind kleiner und brauchen eine geringere Fläche."

Tierische Brücken

Neben dem Grünen Band gelten auch Brücken über Autobahnen als biologische Korridore, auf denen etwa Rehe migrieren können. Oder auch Untertunnelungen von Straßen, die für Amphibien auf dem Weg zu ihrem Laichplatz überlebensnotwendig sind. Streckenweise sind es aber nicht die durchgehenden Korridore, sondern einzelne Flecken wie der Dernberg, die das Überleben der Arten sichern.

Foto: Katharina Kropshofer

Werden diese Flecken ausgedünnt und die für Pflanzen und Tiere notwendigen Lebensräume fragmentiert, kann das zum Aussterben einer Art führen: "Wenn ich jetzt einen Trittstein schaffe, der mehrere Hundert Meter von der nächsten naturnahen Fläche entfernt ist, werden weniger mobile Arten nicht hinfinden", so Frank.

Damit die Abstände verringert und Lebensräume entlang des Grünen Bandes besser vernetzt werden, gibt es das "DaRe to Connect"-Projekt, das durch die Europäische Union gefördert wird. Dabei helfen auch Daten des EU-Erdbeobachtungsprogramms Copernicus.

Doch die reine Definition der ökologischen Korridore reicht nicht. Potenzielle Lebensräume müssen auch erhalten werden. Ohne die Hilfe von Gross und anderen Naturschützern wäre die Landschaft im Weinviertel bald zu zerstückelt für viele Arten entlang des Grünen Bandes: Trockenrasen sind nämlich auf die Unterstützung von Menschen oder grasenden Tieren wie Schafen angewiesen – sonst würden sie verbuschen. Neben Gross haben sich heute deshalb rund 15 Freiwillige aus Ländern wie Lettland, Albanien oder Spanien versammelt, um genau das zu verhindern.

Bäume schneiden

Im Rahmen des sogenannten Green Belt Camps, organisiert von der Freiwilligenorganisation Service Civil International (SCI), mähen sie das Gras und schneiden kleine Büsche, die Licht und Nährstoffe von den selteneren Blütenpflanzen abzwacken. "Viele Freiwillige, die an unseren Umweltprogrammen teilnehmen, glaubten, dass sie Bäume pflanzen werden. Aber meist ist es das Gegenteil: Sie schneiden Pflanzen um", erzählt der SCI-Koordinator Andrea Loddo. Das habe auch mit einem falschen Bild von Naturschutz zu tun, weiß Thomas Frank: "Wir haben ja – mit wenigen Ausnahmen – kaum mehr echte Naturflächen in Österreich. Und was von Menschen gemacht ist, muss auch von Menschen gepflegt werden." Er spricht deshalb von naturnahen Flächen: "In der Kulturlandschaft sind solche Flächen oft wichtiger als großflächige Korridore, die meistens schwer umsetzbar sind." Auch die Funktion von kleinen Flächen oder sogar unberührten Streifen am Straßenrand dürfe man nicht unterschätzen. "Wenn es seltene Arten gibt, die mit kleinem Lebensraum auskommen, die aber nicht mobil sind, kann man so das Überleben gewisser Arten erhalten", sagt Thomas Frank.

Was naturbelassen aussieht, ist oft mit schweißtreibender Arbeit verbunden.
Foto: Katharina Kropshofer

Zurück auf dem Dernberg läutet das Telefon von Margit Gross. Ein Freiwilliger möchte wissen, wie viele Weißdornbüsche er stehen lassen soll. Die Schwierigkeit? Zu entscheiden, auf wen und was man sich beim Naturschutz und des Erhalts von Korridoren konzentriert. Rehe brauchen etwa keinen Trockenrasen, sondern eher Büsche, um sich verstecken zu können. Ziesel benötigen Brachen, also ungenützte landwirtschaftliche Flächen. Und Bestäuber eben offene Gebiete mit vielen Blütenpflanzen.

Bevor die Arbeit der Naturschützer beginnen kann, braucht es deshalb Kartierungen, also eine Erhebung aller Arten eines Lebensraums. Dann wird gemeinsam mit Experten und Expertinnen ein Pflegeplan erstellt. "Wir möchten ein Mosaik erhalten, es soll nicht alles offen sein", sagt Gross. Das Telefon läutet wieder. Dieses Mal ist es die Vizebürgermeisterin der angrenzenden Gemeinde, die Traubensaft vorbeibringen will. Denn fast gleich wichtig wie die Arbeit mit der Natur ist die Arbeit mit den Menschen vor Ort. Schließlich braucht es das Wohlwollen der Landwirte rundum. Denn der Naturschutzbund und andere Organisationen setzen auch auf den Zukauf von Flächen, um die wertvollen Trittsteine des Grünen Bandes und den Korridor so zu erhalten und weiter auszubauen.

30 Prozent für die Natur

Das ist auch im Sinne der vorgeschlagenen Ziele jener UN-Konvention, die im Frühjahr 2022 bei einer internationalen Konferenz zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt diskutiert werden soll: Bis ins Jahr 2030 sollen 30 Prozent der weltweiten Fläche für die Natur bewahrt werden. In Österreich stehen etwa drei Prozent der Bundesfläche unter strengem Schutz, circa 14 Prozent gelten als geschützte Gebiete. Zählt man weniger streng geschützte wie Landschaftsschutzgebiete dazu, kommt man insgesamt auf knapp 29 Prozent der Fläche Österreichs. Doch es gehe oft um Qualität, nicht Quantität, so Margit Gross: "Ginge es nach mir, würden wir diese Flächen natürlich noch ausweiten. Aber wichtig ist vor allem, auf zehn Prozent stark geschützte Kernzonen zu kommen."

Der erste Schritt ist, das Überleben der Populationen in diesen streng geschützten Bereichen zu sichern. Erst in einem zweiten Schritt könne man sich auch über die Ausbreitung Gedanken machen. Und dann ist da noch der Aspekt des Klimawandels: Ändern sich die Lebensbedingungen einer Art, muss diese ausweichen können. "Wir brauchen diese Netzwerke für die Natur immer dringender. Und eine Vielfalt der Lebensräume bedeutet auch die Sicherung einer Vielfalt an Arten."

Die Geschichte des Naturschutzes ist deshalb auch immer eine Geschichte der Landschaftsnutzung. Eine der umliegenden Landwirtinnen dürfte das Potenzial einer Kooperation bereits erkannt haben: Seit kurzem grasen ein paar Schafe auf einem der Trockenrasen und ersparen den Naturschützern so die Mäh-Arbeit. In Zukunft werden sich dort auch Blütenpflanzen gegen das Gras durchsetzen und Schmetterlinge anziehen. Das Grüne Band wird dann wieder mit Farbtupfen gesprenkelt sein. (Katharina Kropshofer, 20.9.2021)