"Dame mit blauen Augen" (1918): Nach einer Skandalausstellung traten die Figuren in Modiglianis Spätphase weniger freizügig auf.
Foto: Musée d'Art Moderne / Roger-Viollet

Es sind die Augen. Diese leeren, fast blinden Augen, die unverkennbar mit dem Werk Amedeo Modiglianis verbunden sind. Wie blassblaue oder tiefschwarze Mandeln liegen sie in den Gesichtern seiner Figuren. Sie wenden sich in ihr Innerstes und geben Rätsel auf, genauso wie es der italienische Künstler selbst auch tut, dessen Todestag 100 Jahre zurückliegt.

Dieses Jubiläum wollte die Albertina bereits letztes Jahr begehen. Doch nach der pandemiebedingten Verschiebung und der Befürchtung, dass man aufgrund der zahlreichen internationalen Leihgaben ganz absagen muss, kann die große Modigliani-Ausstellung am Freitag eröffnen. (Nur vier Gemälde aus Brasilien konnten nicht anreisen.) Die umfangreiche Schau mit dem Untertitel Revolution des Primitivismus präsentiert neben 80 Werken (Gemälde, Zeichnungen, drei Skulpturen) des 1884 in Livorno geborenen und mit 35 Jahren an Tuberkulose verstorbenen Künstlers auch einige seiner bekannten Kollegen Pablo Picasso, Constantin Brâncuși und André Derain.

Sie alle lebten Anfang des 20. Jahrhunderts in Paris, waren Teil eines Kreises junger Avantgarde-Maler und beeinflussten sich gegenseitig. Angetrieben von dem Verlangen, mit der akademischen Bildertradition zu brechen, begaben sie sich unabhängig voneinander auf die Suche nach radikalen Ausdrucksformen und fanden diese in Werken außereuropäischer sowie archaischer Kunst, die sie in Pariser Museen kennenlernten und deren reduzierte Formensprache sie schließlich in ihre Werke aufnahmen. Einflussreiche Beispiele wie 4000 Jahre alte Skulpturen der Kykladen oder Kunst der Khmer Kambodschas aus dem 12. Jahrhundert finden sich auch in der Ausstellung.

Flache Nase, mandelförmige Augen: Modiglianis "Kopf" (1911/12) aus Kalksandstein.
Foto: Bridgeman Images ; Modigliani / Albertina

Problematische Begriffe

Der koloniale Hintergrund und auch der Begriff des "Primitivismus", der auf die problematische Bezeichnung des "Primitiven" zurückgeht, wird hier als Stil- und Epochenbezeichnung verstanden. Dies vermittelt die Schau zwar zu Beginn, eine konkrete Erklärung, weshalb der Begriff umstritten ist, bleibt sie allerdings schuldig. Genauso verhält es sich mit dem Namen "Botticelli nègre" (so wurde Modigliani wegen seiner späteren Damenporträts bezeichnet), der sich wenigstens in Anführungszeichen findet.

Abgesehen von diesen heiklen Momenten ist es eine spannende Idee, die Retrospektive dieses faszinierenden Künstlers – dessen Werke zwar am Kunstmarkt enorm hohe Summen erzielen, der seine Außenseiterrolle aber nie ganz abgelegt zu haben scheint – in einen größeren Kontext einzubetten.

Insbesondere durch die Gegenüberstellung mit Picasso möchte der französische Kurator und Herausgeber des 2022 erscheinenden Modigliani-Werkverzeichnisses Marc Restellini das legendenhafte Image des Künstlers aufbessern und erneuern. Armut, Krankheit, angeblicher Alkohol- und Drogenmissbrauch, Skandale, Gerüchte, der frühe Tod und der gleich darauf folgende Suizid seiner schwangeren Frau trugen dazu bei, dass Modigliani zum "verdammten Künstler" stilisiert wurde. Restellini sieht den Einzelgänger als Gleichgesinnten Picassos.

Pablo Picassos "Brustbild eines Mannes" (Studie zu Les Demoiselles d'Avignon, 1907).
Foto: Succession Picasso/Bildrecht Wien, 2021 / Adrien Didierjean ; Modigliani / Albertina

Zuerst Bildhauer, dann Maler

Ganz chronologisch beginnt man also und stellt Picassos kubistischen Frauenkopf (1908) eine steinerne Kopfskulptur von Modigliani (1913) sowie eine Holzmaske aus dem zentralafrikanischen Gabun zusammen. Die flachen Nasen, angedeuteten Münder und pupillenlosen Augen sind ihnen allen gleich. Auch Brâncuși, neben dem Modigliani von 1909 bis 1914 am Montparnasse als Bildhauer arbeitete, ist prominent vertreten.

Ein ganzer Raum widmet sich der vielfältigen Auseinandersetzung der Künstler mit der Figur der Karyatide (als Dachstütze eingesetzte weibliche Figur). Immer wieder werden außereuropäische Werke in Vitrinen jenen der Avantgardisten (von Derain sind es nur zwei Arbeiten) zur Seite gestellt. Bis hierher ist alles schlüssig.

Doch dann endet Modiglianis Tätigkeit als Bildhauer, die er aus gesundheitlichen Gründen aufgeben muss, und auch in der Schau tut sich nun ein scheinbarer Bruch auf: Plötzlich sind Modiglianis Gemälde luftiger gehängt und allein, alle Kollegen und Vorbilder sind verschwunden. Nur noch als von ihm Porträtierte sind sie anzutreffen. Zwar wirkt diese abrupte Änderung (und eine plötzliche Fotowand) etwas inkonsequent, tun der Ausstellung aber in toto keinen Abbruch.

Eines der skandalösen Aktbilder: "Liegender Frauenakt auf weißem Kissen", (1917).
Foto: bpk / Staatsgalerie Stuttgart

Legendäre Schamhaare

Auf farblichen Wand-Highlights hängen dann endlich jene Aktgemälde, die 1917 zum Skandal und später legendär wurden: Nur ein paar rotbraune Pinselstriche, die das Schamhaar der liegenden Frau andeuten, reichten aus. Die Ausstellung musste geschlossen werden, kein einziges Werk wurde verkauft.

In Modiglianis darauffolgender "klassizistischer" Phase mit zurückhaltend-mysteriösen Frauenporträts wird deutlich, dass den Künstler nicht nur außereuropäische Kunst beeinflusste. Mit ihren manieristisch überlangen Körpern und Hälsen, dem vibrierenden Blau im Hintergrund erinnern sie fast an erhabene Madonnenbilder. Ihre Gesichter tragen aber immer noch die maskenartigen Züge seines Frühwerks. Ihre Augen scheinen fast hypnotisch. Bis zum Schluss blieb diese Rückbesinnung Kern seiner Kunst. (Katharina Rustler, 17.9.2021)