Der Handel ist Österreichs zweitgrößter Arbeitgeber. Derzeit sind rund 20.000 offene Stellen unbesetzt.

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Wien – Österreichs Händlern gehe das Personal aus. Trotz hoher Arbeitslosigkeit seien quer durch das Land 20.000 Stellen unbesetzt, rechnet der Handelsverband vor. Allein in Wien seien 3200 Jobs ausgeschrieben. Seit Corona habe sich Qualität wie Quantität der Bewerber deutlich verschlechtert. Das betreffe auch Lehrlinge. Das Bildungssystem sei nicht mehr in der Lage, für in den Schulen gut ausgebildeten Nachwuchs zu sorgen, der der deutschen Sprache mächtig sei, sagt Verbandspräsident Stephan Mayer-Heinisch im Gespräch mit dem STANDARD.

Er erzählt von Unternehmen, die mittlerweile nur noch ein Drittel der offenen Lehrstellen besetzen könnten, da die übrigen Anwärter die Anforderungen nicht erfüllten.

Was ältere Generationen betrifft, hält er es für klug, Zuverdienstgrenzen zur Pension zu erhöhen. "Wieso soll man nicht auch noch mit 65 Jahren im Verkauf arbeiten dürfen? Die Lebenserwartung steigt. Viele wollen nicht allein Tauben füttern, sondern weiter unter Leuten sein."

Kein Homeoffice

Gründe dafür, warum der Kampf um Mitarbeiter für den stationären Handel härter wurde, sieht Mayer-Heinisch unter anderem in der Pandemie, die Menschen bei der Wahl des Arbeitsplatzes vorsichtiger werden ließ. Der strukturelle Umbruch der Branche verunsichere. Viele hätten auch Vorteile des Homeoffice zu schätzen gelernt, die es im Handel nicht spiele. Ein Viertel der offenen Stellen geht auf Lebensmittelketten zurück. Rewe etwa sucht derzeit fast 3000 Mitarbeiter, knapp 1600 davon für den Verkauf in den Filialen.

"Der Handel ist kein attraktiver Arbeitgeber", sagt Anita Palkovich. Die Ursachen dafür macht die GPA-Gewerkschafterin jedoch weniger in der Pandemie als in den Arbeitsbedingungen aus. "Der Lebensmittelhandel etwa bietet fast ausschließlich Teilzeitjobs, von denen allein keiner leben kann."

Arbeitslose, die zuvor Vollzeit beschäftigt waren, in Stellen mit nicht mehr als 20 oder 26 Stunden die Woche zu zwingen hält sie für zutiefst unfair. Die Differenz zum Arbeitslosengeld sei damit zu gering. Klappt es mit dem Job nicht, geht der Anspruch auf die zuvor höhere staatliche Unterstützung verloren.

"Zu viel Teilzeit"

Geteilte Dienste, Arbeit an jedem zweiten Samstag und unter der Woche mitunter bis 21 Uhr mache den Handel für viele ebenso wenig zur ersten Wahl wie die Aussicht, weiterhin Maske tragen zu müssen und den Aggressionen der Kunden ausgesetzt zu sein.

Palkovich legt Arbeitgebern nahe, mehr Vollzeitstellen zu schaffen. Es müsse leichter werden, Stunden aufzustocken. Wer in Teilzeit Mehrarbeit leiste, der dürfe mit niedrigeren Zuschlägen im Vergleich zu Vollzeit nicht den Kürzeren ziehen. Und es brauche klare Antworten aus der Politik zu den Corona-Maßnahmen. Mit Blick auf 21. Oktober, ab dem die Kollektivverträge der Branche verhandelt werden, ist Lohnzurückhaltung aus ihrer Sicht unangebracht. "Es geht um die Stärkung des Konsums. Die erschwerten Bedingungen im Handel gehören abgegolten."

Mayer-Heinisch verwehrt sich jedoch dagegen, das Arbeitsumfeld im Handel pauschal in ein schlechtes Licht zu rücken. Dass Händler wie Gastronomen quasi dazu verdammt seien, Präsenz zu zeigen, wenn der Rest der Bevölkerung nicht arbeite, daran gebe es nichts zu rütteln. In der Praxis aber kämen Arbeitgeber Mitarbeitern mit zahlreichen flexiblen Arbeitszeitmodellen entgegen, um den Job mit dem Familienleben vereinbar zu machen.

Land der hohen Steuern

Dass es für viele Österreicher extrem demotivierend sei, sich in den unteren Lohngruppen Arbeit zu suchen – daran lässt er keine Zweifel. "Mitarbeitern bleibt netto zu wenig übrig." Dasselbe gelte aber auch für beschäftigungsintensive Unternehmen. "Wir leben in einem Land der hohen Steuern und Gebühren."

In jeder Sonntagsrede verspreche die Politik, daran etwas zu ändern. Geschehen sei nichts. "Beim Wirt langt der Staat zu, noch ehe dieser sein erstes Schnitzel verkauft hat."

Viele Händler seien mit wenig Eigenkapital ausgestattet. Aber auch Arbeitnehmer liefen in Gefahr, im Alter in eine Armutsfalle zu geraten.

Die Lohnrunde werde in jedem Fall zur Quadratur des Kreises. "Der Hälfte der Händler geht es gut, der anderen steht das Wasser bis zum Hals." Mayer-Heinisch plädiert dafür, Automatismen zu überdenken. "Warum etwa muss der Staat bei jeder Lohnerhöhung mitverdienen?"

Kein Weiterkommen gebe es auch, wenn bei der Reform des Arbeitsmarktes reflexartig tiefe Pflöcke eingeschlagen würden. "Wieso lässt man nicht 50 gescheite Leute eine Woche ohne Handy in einer Berghütte nach Lösungen suchen?" (Verena Kainrath, 17.9.2021)