Russo bedient mit seinem Buch das Genre der Campus-Novel.

Foto: Elena Seibert

Manchmal braucht Kulturtransfer lange. Sehr lange. Auch wenn er aus einer so gängigen, dabei von nur wenigen wahrhaft elegant gehandhabten Weltsprache wie dem Englischen stammt. So benötigte der 1949 geborene US-Amerikaner Richard Russo zehn Jahre, nachdem ihm 2002 mit dem Pulitzer-Preis einer der bedeutendsten Literaturpreise verliehen worden war, um hierzulande anfangs zögerlich, dann stärker wahrgenommen zu werden. Nun erscheint mit Mittelalte Männer seine urkomische Campus-Novel aus dem Jahr 1997 in guter Übersetzung.

Eine Sprache, ein Genre

Die Campus-Novel, der Universitätsroman, ist eine Spezialität der angloamerikanischen Literatur. Und das bereits seit mehreren Generationen, von C. P. Snows The Masters über Mary McCarthys ein Jahr später, 1952, erschienenen Roman The Groves of Academe über Postmodernes von John Barth oder Malcolm Bradbury bis zu Michael Chabons Wonder Boys, Philip Roths Der menschliche Makel oder, jüngst, Brandon Taylors Real Life.

In Österreich, der Schweiz, erst recht in Deutschland ist angesichts von Massenuniversitäten, die mehr auf anonymes Durchschleusen denn auf elitäre, anmaßend universalistische Bildung ausgerichtet sind, solch ein Unterfangen nahezu unmöglich. Nein, es ist faktisch unmöglich.

Wenn es versuchsweise unternommen worden ist, dann sind die Bücher, Dietrich Schwanitz’ Der Campus etwa, übermächtigen Vorbildern Englands nachgeschrieben. Und gnädig vergessen. Wer erinnert sich noch an Berliner Aufklärung der TV-Literatur-Dominatrix Thea Dorn, wer an Annette Pehnts Hier kommt Michelle?

Die drei Campus-Romane des Engländers David Lodge, der 20 Jahre lang an der University of Birmingham in Mittelengland lehrte, hingegen sind aktuell in einer auf moderne Klassiker spezialisierten Buchreihe unter dem Titel The Campus Trilogy erschienen. Der Untertitel "A Tale of Two Campuses" des Auftakts Changing Places, auf Deutsch Ortswechsel, signalisiert schon Dickensianismus, fettes Erzählen.

Fröhliche Verantwortungslosigkeit

Und das ist auch bei Russo der Fall. Seine Hauptfigur William Henry "Hank" Deveraux jr. ist Sohn zweier Literaturprofessoren und lehrt englische Literatur und Creative Writing an der kleinen, unbedeutenden West Central Pennsylvania University in Railston, einem heruntergekommenen Industriestandort, mittlerweile ohne Industrie, einem Eisenbahnknotenpunkt, inzwischen ohne Eisenbahn, und amtiert seit knapp einem Jahr als Interimsfachbereichsleiter.

Mit 29 Jahren, vor mittlerweile 20 Jahren, veröffentlichte Hank sein einziges Buch. Seither hat er sich in solider Mittelmäßigkeit und früh errungener Unkündbarkeit eingerichtet. Das Einzige, was diesen Zustand akut durchbricht, ist seine hemmungslose Spottlust. Mit seiner spitzen Zunge, anarchischen Bemerkungen wie mit seinem absichtlich indolenten Administrativverhalten hat er sich allzu oft in Bredouillen geritten, aus denen er sich als vokalakrobatischer Münchhausen jedes Mal wieder herausziehen konnte.

Auch wenn er, dessen Leitprinzip fröhliche Verantwortungslosigkeit ist, andere vor den Kopf stieß. Die Fakultätsmitglieder sind einander seit Jahren spinnefeind, spötteln, intrigieren, klagen einander. Hank hat somit an jeder Front, in der Ehe, in der Familie, im Job, Probleme, erst recht gesundheitliche. Denn stammen die heftigen Unterleibsschmerzen von einem Blasenstein, von einer Prostataerweiterung – oder ist es gar ein Krebstumor?

Hinreißend lustig zeichnet Russo das Porträt dieses verantwortungslos unernsten Fastfünfzigers, eines "mittelalten Mannes", dessen Perzeption des Lebens traurig teilreduziert ist. Er ist Stellvertreterprodukt seiner Erziehung, seiner Generation, seines Landes.

Satire und Realismus

Ist dies nun eine Tragödie? Oder eine Komödie? Letzteres viel stärker, denn Russo schreibt enorm unterhaltsam und bringt fast auf jeder Seite Sager, Pointen, Lacher unter. Dass Russo die akademischen Binnenverhältnisse sehr gut kennt, liegt daran, dass er selber jahrelang an Hochschulen gelehrt hat, so am kleinen Colby College im US-Bundesstaat Maine, in dem Russo ansässig ist.

Famose Dialoge schreibt er, kreiert hinreißende Szenarien, erschafft satirische Zerrfiguren, die er nie bösartig denunziert. Das Ganze: ein absurdes Panoptikum eines falschen Lebens im falschen Sein. Und zugleich anrührend patiniert. Denn heutzutage, nahezu ein Vierteljahrhundert später, sind Sein und Denken an amerikanischen Hochschulen argumentativ radikal fragmentiert und spielen sich in sich gegenseitig im besten Fall negierenden, schlimmstenfalls diffamierenden Miniatur-Diversitätsblasen ab.

Man kann nur hoffen, dass sich Richard Russo mit dem Schlussband seiner "Fools"-Romane Nobody’s Fool von 1995 (Ein grundzufriedener Mann) und Everybody’s Fool (2016, Ein Mann der Tat) nicht mehr allzu viel Zeit nimmt. Denn von ihm, diesem unbändig erzählfreudigen, realistischen wie ausnehmend klugen Epiker, will man viel lesen, immer mehr. (Alexander Kluy, ALBUM, 19.9.2021)