Immer im Blick: der gemeinsame Fortbestand der Eurogruppe.
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Es ist sehr gut, dass die EU-Finanzminister jetzt anfangen, über die gemeinsamen Defizit- und Schuldenregeln zu diskutieren, die ab 2023 gelten sollen, nachdem die Periode der Aussetzung der Regeln abgelaufen ist. Das gibt genug Zeit, Argumente jenseits des altbekannten "Sparsamkeit versus Ausgabenfreude" auszutauschen. Wichtig ist dabei, den gemeinsamen Fortbestand der Eurogruppe im Blick zu haben oder wenigstens als Nebenbedingung mitzudenken. Um das zu erreichen, heißt es, im Gespräch zu bleiben und nach Antworten auf wirklich schwierige Fragen zu suchen.

Wie groß ist das Risiko der hohen Staatsverschuldung für die Zahlungsfähigkeit in einigen Ländern relativ zu den Kosten einer Wirtschaftsentwicklung, die langfristig deutlich unter dem Potenzial verläuft? Italien hat beispielsweise seit 1998 praktisch kein Wachstum, gemessen am realen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, erlebt. Es ist wieder zum Auswanderungsland geworden, wie in den 1960ern und 1970ern, aus dem jetzt aber besonders junge, gut qualifizierte Menschen abwandern. Das drückt die Erwartungen der Menschen hinsichtlich der Zukunft ihres Landes sehr deutlich aus.

Was ist "Secular Stagnation"?

Das ist nicht allein ein italienisches Problem. Japan erlebt eine sehr ähnliche Entwicklung schon seit knapp 30 Jahren. Aber diese beiden Länder sind nur die charakteristischsten Beispiele eines allgemeineren Phänomens. Larry Summers, Ökonom und ehemaliger US-Finanzminister, hat dieses Phänomen "Secular Stagnation" getauft. Gemeint ist damit eine für alle OECD-Länder zu beobachtende Lücke zwischen Ersparnisbildung und Investitionen, bei der das Sparen die Investitionen permanent übersteigt. Zinssenkungen sind nicht in der Lage, daran etwas zu ändern. Der gleichgewichtige Realzins ist in den letzten drei Jahrzehnten stark gefallen und liegt nach Summers und Lukasz Rachels Berechnungen von 2019 für die OECD-Länder als Gruppe bei drei Prozent im negativen Bereich. Mehr noch, ohne die stärkere, schuldenfinanzierte Nachfrage des Staates in dieser Zeitspanne läge er bei minus sieben Prozent. So weit kann der Zins aber gar nicht fallen.

Man muss die Zahlen nicht auf die Kommastelle glauben, das empirische Bild der OECD-Länder seit der Jahrtausendwende ist aber gut mit dieser Geschichte vereinbar. Die Volkswirtschaften, denen es gelungen ist, sich dieser Investitions- und damit Nachfragelücke zu entziehen, sind jene mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen. Deutschlands Vollbeschäftigung gelang zwar bei sinkender Verschuldung des Staates, war aber von ständigen sieben- bis achtprozentigen Leistungsbilanzüberschüssen begleitet. Da die OECD als Gruppe eine ausgeglichene Zahlungsbilanz hat, vergrößert das die Sorgen anderer OECD-Länder.

Geldpolitik allein reicht nicht

Das heißt nicht, dass die schuldenfinanzierte Staatsnachfrage unausweichlich und alternativlos ist. Die hohe Staatsverschuldung bleibt problematisch, auch bei niedrigen Zinsen. Darüber hinaus sind staatliche Ausgabenprogramme, wenn sie kein anderes wirtschaftlich sinnvolles Ziel als die Stabilisierung haben, keine Lösung für das eigentliche strukturelle Problem. Die Problembeschreibung mittels Secular Stagnation macht nur deutlich, dass das zugrunde liegende Problem komplexer ist als Mentalitätsunterschiede: "Sparsamkeit versus Ausgabenfreude".

Mehr noch zeigt diese Sichtweise: Die Geldpolitik allein wird die Stabilisierung in der Eurozone nicht schaffen. Ohne fiskalische Unterstützung war selbst die Deflationsbekämpfung sehr schwer. Die Stabilisierung der Finanzmärkte ist auch nach 13 Jahren nicht abgeschlossen. Zumindest der Markt für Staatsschuldpapiere braucht die ständige Betreuung durch die EZB. Eine Lösung wird fiskalische Regelungen genauso benötigen wie geldpolitische und finanzmarktspezifische. All das muss ausdiskutiert werden.

Was heißt das für Österreich?

Als kleine, offene Volkswirtschaft mit bedeutenden Außenhandelsbeziehungen zu den anderen Mitgliedsländern hängt Österreichs Wohlergehen noch stärker vom Erfolg der Gemeinschaft ab als jenes anderer Länder. Das betrifft den Tourismus sowie industrielle Wertschöpfungsketten und die Brückenfunktion nach Ost- und Südosteuropa. Sie waren die Triebkräfte des robusten Wachstums in Österreich in den letzten zwei Jahrzehnten. Ein stabiles und prosperierendes Südeuropa wäre für weiteres Wachstum in Österreich hilfreich. Darüber herrscht weitgehend Einigkeit. Nur: Ist ein ausgeglichener Haushalt Voraussetzung oder Hindernis für eine längere Periode robusten Wachstums in der EU in den nächsten Jahren?

In der "Secular Stagnation"-Literatur wird die Wachstumsschwäche als gegeben angenommen und nicht weiter thematisiert. Robert Gordon hat sich dagegen schon 2012 mit sechs Gründen damit befasst, warum es die IT-Revolution nicht mit früheren Wachstumstreibern aufnehmen kann. Die Hälfte seiner Gründe betrifft Unterinvestitionen des Staates (Bildung, Ungleichheit und Umwelt/Energie). Ein Grund ist die Verschuldung privater und staatlicher Haushalte. Es lassen sich also wohl staatliche Investitionen finden, die mehr sind als bloße Stabilisierungsmaßnahmen, nämlich Investitionen, die die Produktivität erhöhen. Eigentlich sind diese auch schon länger bekannt, unterbleiben aber. Genug Grundlage also, um über die zukünftige Fiskalpolitik in der EU zu diskutieren. Der erste Aufschlag scheint gemacht. (Jörn Kleinert, 21.9.2021)