Vom Profiteur zum Kritiker sozialer Medien: "Tagespresse"-Gründer Fritz Jergitsch.

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Wien – Was man halt im Lockdown so macht: "Tagespresse"-Gründer Fritz Jergitsch hat ein Buch geschrieben. In "Die Geister, die ich teilte. Wie soziale Medien unsere Freiheit bedrohen" beschreibt Jergitsch, wie er vom Profiteur zum Kritiker sozialer Medien wurde und wie Facebook, Twitter & Co von der Politik an die Kandare genommen werden könnten.

STANDARD: Facebook, Twitter & Co haben Sie und die "Tagespresse" groß gemacht. Jetzt rechnen Sie auf über 220 Seiten mit den sozialen Medien ab. Was hat zur Entfremdung geführt?

Jergitsch: Viele Leute, speziell die Politik in Europa, haben nicht am Radar, wie die sozialen Medien die machtpolitischen Karten neu mischen. Wir sehen, dass Autokraten wie Donald Trump oder Wladimir Putin soziale Medien wie eine Waffe einsetzen. Die Militärjunta in Myanmar befeuerte mithilfe von Facebook sogar einen Genozid. Die sozialen Netzwerke sind nicht in der Lage, ihre Probleme selbst zu lösen – ein Marktversagen. Ich habe das Buch geschrieben, um zu zeigen, wie wir Macht verlagert haben: von unseren eigenen Medien ins Silicon Valley.

STANDARD: Die "Tagespresse" hat 364.000 Fans auf Facebook. Sie profitieren also immer noch von der Macht Facebooks, um die eigene Popularität und die Reichweite zu steigern.

Jergitsch: Ich halte soziale Medien für ein natürliches Phänomen. Würde man Facebook und Twitter boykottieren, träte ein neues Medium auf den Plan. Deswegen bringt es auch nichts, die bestehenden Medien zu boykottieren, sondern man sollte versuchen, sie zu regulieren. Ich glaube nicht, dass man mit Verboten weit kommt. Das ist wie bei Drogendealern. Verhaftet man einen, kommt der nächste.

STANDARD: Was ist Ihr Vorschlag? Demokratisierung? Zurückdrängen von Fake-News?

Jergitsch: Die Politik muss begreifen, dass sie den digitalen Raum genauso regulieren kann wie den physischen. Die DSGVO war ein erster richtiger Schritt. Wir müssen verstehen, wie Algorithmen funktionieren, und jene Mechanismen, die Schaden anrichten, ausschalten. Ein Grundübel ist die Optimierung auf Interaktionen – sie sorgt für Fake-News und Polarisierung. Ebenfalls wichtig ist die Demokratisierung von sozialen Medien, zum Beispiel im Hinblick auf Entscheidungen wie die Sperre der Accounts von Donald Trump. Kann man einen US-Präsidenten einfach so sperren? Sollen das irgendwelche Manager in einem Sitzungsraum im Silicon Valley entscheiden? Eingriffe in die Demokratie müssen demokratisch legitimiert sein.

STANDARD: Die sozialen Medien sind in privater Hand. Die Einflussmöglichkeiten der Politik sind begrenzt, und Facebook wird nicht einfach so nach ihrer Pfeife tanzen, oder?

Jergitsch: Wenn eine Chemiefabrik ihre Giftabfälle in die Donau spült, steht das Umweltamt aber so was von schnell vor der Tür. Analog spülen uns soziale Medien Fake-News und Angst auf die Bildschirme. Natürlich beschneiden wir die unternehmerische Autonomie eines Mark Zuckerberg oder Jack Dorsey, aber im Zuge der Arbeit an dem Buch bin ich zu dem Schluss gekommen, dass unsere Demokratie auf dem Spiel steht, wenn wir ihre Allmacht nicht durch Regulierung bändigen.

STANDARD: War es richtig, Donald Trump zu sperren und ihn von seinen primären Kommunikationskanälen abzuschneiden, oder halten Sie so eine Vorgehensweise für problematisch?

Jergitsch: Ich finde es richtig, Leute zu sperren, die wiederholt Falschmeldungen posten und damit Leute aufhetzen. Ich finde es aber falsch, wenn das von profitorientierten Managern in einer Geheimsitzung entschieden wird. Deswegen beschreibe ich auch, wie eine Demokratisierung sozialer Medien aussehen könnten. Ich halte das für eine Lösung, um solche kontroversen Entscheidungen wie die Trump-Sperre demokratisch legitimierbar zu machen. Das ist der Schlüssel hin zu sozialen Medien, die nicht mehr so viel Schaden anrichten wie derzeit.

STANDARD: Wie könnte das konkret aussehen?

Jergitsch: Facebook hat bereits vor rund zehn Jahren einmal einen stümperhaften Versuch angestellt, Userbeteiligung umzusetzen. Sie haben gesagt, dass ein Beschluss nur angenommen wird, wenn 30 Prozent der Facebook-User abstimmen. Dann war kein einziger Beschluss gültig, und sie haben das Projekt wieder eingestellt. Genauso, wie wir in einer Demokratie nicht alle über alles abstimmen lassen, braucht es einen repräsentativen Körper von Usern, die ihre Interessen vertreten und über Dinge mitentscheiden dürfen. Insbesondere etwa bei der Gestaltung von Algorithmen.

STANDARD: Das Grundübel sind Algorithmen, die Emotionen pushen, und hier vor allem negative Reaktionen?

Jergitsch: Das Grundübel ist, dass es sich bei sozialen Medien um profitorientierte Unternehmen handelt, die Werbung verkaufen. Dafür ist es nötig, uns möglichst lange an die Bildschirme zu fesseln. Das geschieht durch Algorithmen, die darauf getrimmt sind, hochemotionalisierende Inhalte rauszufiltern. Das führt dazu, dass Fake-News extreme Verbreitung finden, und zweitens, dass Angst irrsinnig befördert wird. Das ist eine starke Emotion. Das größte Problem ist, und das macht mir am meisten Angst, wie Algorithmen Polarisierung fördern.

STANDARD: Wie?

Jergitsch: Algorithmen lieben Inhalte, die bei uns eine Emotion auslösen. Dann gibt es auch Inhalte, die zwei Emotionen auslösen: Fordert etwa ein Experte in den Medien eine Impfpflicht, versetzt das Impfbefürworter in Freude, Impfgegner dagegen in Wut. Zwei Emotionen erzielen eine doppelt so hohe Interaktionsrate. So übertrumpfen polarisierende Inhalte die nichtpolarisierenden.

"Die Geister, die ich teilte. Wie soziale Medien unsere Freiheit bedrohen" erscheint am Dienstag im Residenz-Verlag (224 Seiten, 22 Euro).
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STANDARD: Im Buch führen Sie die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 als Beispiel an.

Jergitsch: Ich habe mir die meistgeteilten Artikel in den Jahren 2015 und 2016 angeschaut und sehr deutlich sehen können, wie sich dieser Stimmungsumschwung manifestiert hat. 2015 waren die meisten Inhalte positiv, 2016 waren es fast nur mehr negative. Das war nicht proportional zur tatsächlichen Bedrohung. Die angstmachenden Inhalte haben die anderen aus den Newsfeeds verdrängt. Das liegt einfach daran, dass sie in Algorithmen sehr gut funktionieren. So wird ein Bild vermittelt, das nicht der Realität entspricht. Die Kriminalität ist seit der Flüchtlingskrise gesunken. Für die Berichterstattung hat das aber keine Rolle gespielt.

STANDARD: Als "Tagespresse" profitieren Sie ja auch davon, dass Fake-News so gerne geteilt werden.

Jergitsch: Am Anfang war es noch häufiger so, dass viele Leute reingefallen sind. Was uns von politischer Propaganda unterscheidet, ist die Transparenz: Wir geben auf unserer Webseite an, dass wir eine Satireseite sind. Zum Zweiten unterscheiden wir uns in der Art der Inhalte. Wir schreiben vielleicht, dass H.-C. Straches Facebook-Seite kostenpflichtig wird oder dass die Regierung die Moschee am Karlsplatz sprengen wird, aber wir schreiben sicher nicht, dass Flüchtlinge von der Caritas Gratis-iPhones bekommen. Das ist eine Meldung, die 2016 von Rechtsextremen lanciert wurde, um gegen eine Minderheit zu hetzen. Wenn man auf uns reinfällt, ist es vielleicht lustig und man glaubt, die U5 wird spiralförmig, haha, aber wenn man auf die iPhone-Meldung reinfällt, kann das in einem Hass gegen Flüchtlinge münden.

STANDARD: "Tagespresse"-Meldungen sind ja bereits missbraucht worden, um gegen Muslime zu hetzen.

Jergitsch: Ja, das war die angesprochene Karlsplatz-Moschee-Meldung. Das wurde Monate später in rechtsextremen Foren geteilt. Das hat mich nachdenklich gemacht, weil es nicht unsere Intention ist, für Hetze gegen Asylwerber herzuhalten. Wie gesagt: Wir weisen deutlich aus, dass wir Satire machen. Ich denke auch, dass es ein Korrektiv gibt, da man ja mittlerweile unsere Marke kennt. Hält das jemand für echt, wird er gleich von der Community korrigiert.

STANDARD: Das ist auch der Grund, warum Sie sich etwa bei Maskenwitzen zurückhalten?

Jergitsch: Das denken wir mit. Wenn eine epidemiologisch sinnvolle Maßnahme erlassen wird, werden wir nichts bringen, das vielleicht die Menschen davon abhalten könnte, sie mitzutragen. Zum Beispiel: Anstatt eines Witzes, von wegen Maskentragen sei gesundheitsschädlich, haben wir geschrieben: "Regierung erlaubt Masken aus Leberkäse". Um das Risiko zu vermeiden, dass jemand etwas falsch versteht und seine Mitmenschen gefährdet.

STANDARD: Sie vergleichen in Ihrem Buch soziale Medien mit Boulevardmedien. Was sind die Gemeinsamkeiten?

Jergitsch: Boulevardmedien verkaufen Emotionen. Sie machen uns Angst oder wollen uns mit Banalitäten unterhalten. Sie wollen nicht zwangsläufig ein relevantes, korrektes Bild der Realität vermitteln. Die Algorithmen sozialer Medien sind ebenfalls darauf angelegt, unterhaltsame Inhalte rauszufiltern. Das führt auch zu einem Wandel der Qualitätsmedien. Sie zeichnen sich für mich dadurch aus, dass sie Emotionen weniger hoch einordnen als journalistische Ethik. Wenn jetzt die "New York Times" etwas auf Facebook postet, entscheidet wieder der Algorithmus, welche Inhalte die Follower der "New York Times" zu sehen bekommen. So passiert eine Boulevardisierung von Qualitätsmedien. Das ist ein subtiler Effekt, der die Arbeit der Journalisten ad absurdum führt. Sie verkommen zu Boulevardmedien.

STANDARD: Weil sie sich an den Algorithmus der sozialen Medien anpassen?

Jergitsch: Vor allem weil der Algorithmus entscheidet, welche Meldungen die Leute sehen. Wenn die "New York Times" auf Facebook 20 Meldungen raushaut, sehe ich wahrscheinlich nur die drei unterhaltsamsten davon. Die anderen 17, die vielleicht hochrelevant, aber ein bisschen trockener sind, sehe ich gar nicht.

Fritz Jergitsch.
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STANDARD: Wie viele Zugriffe auf die "Tagespresse" kommen noch via Facebook, und wie viele Leute zahlen für ein Abo?

Jergitsch: Die Zugriffe via Facebook sind deutlich weniger als noch vor ein paar Jahren. In etwa 30 oder 40 Prozent. Derzeit halten wir bei knapp 9.000 zahlenden Abonnenten.

STANDARD: Sie schreiben, dass soziale Medien wie Karaoke-Bars sind. Warum?

Jergitsch: Der Eigentümer einer Karaoke-Bar ist zu geizig, um eine Band zu bezahlen. Deswegen stellt er seine Bühne jedem zur Verfügung, der gerade ein Lied trällern will. Das kann gutgehen oder schlecht. Entweder es kommt ein Supertalent auf die Bühne und alle sind hin und weg, oder eine krächzende Stimme singt ein furchtbares Lied. Bei sozialen Medien ist es ähnlich. Sie locken mit Reichweite, haben aber kein Interesse, vorab die Qualität abzuchecken. Meistens geht das nicht gut. Wir wissen aus Studien, dass Fake-News deutlich besser performen als echte Nachrichten.

STANDARD: Zum Beispiel?

Jergitsch: Das hat man im US-Wahlkampf 2016 gesehen, wo die Fake-Meldungen über Trump wesentlich häufiger geteilt wurden als etwa die gravierendsten Investigativenthüllungen über seine massiven Verluste in den 90er-Jahren. Die Ersteller von Fake-News können alles dem emotionalen Faktor unterordnen. Ein echtes Medium kann vielleicht etwas zuspitzen, pointiert sein, aber im Wesentlichen sind sie gefesselt von der Realität und können nicht schreiben, was sie wollen. Bei Fake-News kann ich mir überlegen, was interessiert und emotionalisiert am meisten, und meine Falschnachrichten nach diesen Gesichtspunkten erstellen. Und der Algorithmus springt dann an.

STANDARD: Facebook beschäftigt 15.000 Moderatorinnen und Moderatoren, die den Feed auf Fake-News und problematische Inhalte abklopfen. Das genügt nicht?

Jergitsch: Das ist ein Kampf gegen Windmühlen, weil viel zu viele Falschmeldungen gepostet werden. Facebook entdeckt nur einen Bruchteil. Auch 15.000 Leute reichen nicht aus, und wir sind noch weit weg von der Situation, dass diese Aufgabe von Algorithmen übernommen werden kann. Das ist aufgrund der Datenmenge technisch nicht machbar. Es gibt eine Untersuchung, die gezeigt hat: Von mehreren tausend gelöschten Youtube-Videos hat Facebook den entsprechenden Link nur in einem Prozent der Fälle ebenfalls gelöscht.

STANDARD: Ist das im Zuge der Pandemie noch eklatanter geworden?

Jergitsch: Es ist eingetreten, was man schon 2016 bei Donald Trump gesehen hat: dass Leute in Paralleluniversen der Information abrutschen. Wie Leute, die in derselben Stadt, im selben Land wohnen, sich in völlig anderen Blasen informieren und ein völlig anderes Bild der Realität vermittelt bekommen. Für den einen ist Trump dann ein furchtbarer Tyrann, für seinen Nachbarn nebenan ein Messias. Das passiert hauptsächlich über Chatdienste und geschlossene Foren. Da ist es noch schwieriger, einzugreifen und die Leute zu erreichen.

STANDARD: Telegram zum Beispiel?

Jergitsch: Bei uns ist es das Kommunikationsmittel Nummer eins, mit dem Impfgegner und Corona-Leugner ihre Fake-News verbreiten, aber im Iran oder Russland ist es der letzte Kanal, auf dem Leute ohne Zensur kommunizieren können. Sowohl der Iran als auch Russland haben versucht, Telegram zu stoppen, sind aber gescheitert, weil du nichts dagegen machen kannst. Das ist kein Dienst, bei dem du einfach alle Server abschalten kannst. Auf der einen Seite erleben wir die vierte Welle, und es gibt Leute, die sich nicht impfen lassen wollen, weil sie glauben, dass sie dann im September sterben oder unfruchtbar werden, auf der andere Seite ist es für die Iraner oder Russen das letzte Mittel, um frei und ohne Kontrolle der Regierung kommunizieren zu können. Das ist ein Dilemma.

STANDARD: In Ihrem Buch spielt Russlands Propagandamaschine eine wichtige Rolle und die von der Regierung beschäftigten Trolle, die etwa Foren infiltrieren, um den Diskurs zu beeinflussen. Sie erwähnen auch das STANDARD-Forum.

Jergitsch: Die Russen haben sich vom Arabischen Frühling inspirieren lassen. Sie haben gesehen, wie soziale Medien den Zugang zu einer wütenden Bevölkerungsschicht verschaffen können. Der russische General Gerassimow hat schon vor längerer Zeit in einem russischen Militärmagazin beschrieben, wie sich soziale Medien als Waffe in einer hybriden Kriegsführung eignen. Russland hat mit Medienoutlets wie SNA News oder Sputnik sehr reichweitenstarke Kanäle, um die eigenen Positionen in die Köpfe der Menschen zu tragen.

STANDARD: Ein Beispiel für die Strategie?

Jergitsch: Das erkennt man etwa daran, wie im STANDARD-Forum teilweise eins zu eins die Kreml-Positionen gepostet werden und sie irrsinnig viel Zustimmung bekommen. Dieses Kreml-Narrativ ist sehr effektiv. Nachrichten werden mit Falschnachrichten vermischt. Beim Oppositionspolitiker Nawalny hat man das nach dem Giftanschlag gesehen. Auf RT wurde das durchgehend als Erkrankung Nawalnys bezeichnet. Dann hat man einen alten Blogeintrag aus den frühen 2000er-Jahren ausgegraben, als er sich homophob geäußert hat. Das hat ja auch gestimmt, aber diese Information wurde vom Kreml bewusst lanciert. Mit der Botschaft: Warum traut sich der Westen nicht, darüber zu berichten? Im STANDARD-Forum liest man dann: Warum ist der STANDARD nicht mutig genug, um über Nawalnys homophobe Aussagen von damals zu berichten? Dieses Narrativ ist sehr verschwörerisch, und es funktioniert gut.

STANDARD: Würde eine Klarnamenpflicht helfen, um gegen Fake-News vorzugehen?

Jergitsch: Ich bin ein Gegner der Klarnamenpflicht. Jeder, der auf Facebook ist, weiß, dass die Leute unter ihrem Klarnamen die schlimmsten Sachen und Morddrohungen posten. Auch wir bei der "Tagespresse" bekommen hin und wieder Morddrohungen mit Klarnamen. Eine Pflicht wäre nichts anderes als bürokratischer Aufwand für Medien. Ansetzen muss man bei den Algorithmen. Die EU hat ja schon bei der Datenschutzverordnung bewiesen, dass sie Daten regulieren kann, und hat den großen Konzernen gezeigt, dass das nicht der Wilde Westen ist. Deswegen verstehe ich nicht, warum das bei Algorithmen nicht auch gehen soll. Warum soll man sozialen Medien erlauben, dass sie uns überemotionalisieren? Dass sie aus einem Fundus an Content den am meisten polarisierenden rausfiltern und uns damit bombardieren? Dagegen sollten wir uns wehren. Der Schlüssel ist, die Optimierung auf Interaktionen zu verbieten. Das würde sie zwingen, eine Methodik zu entwickeln, die auf Qualität abzielt.

STANDARD: Qualität könnte an die Stelle von Interaktionen treten?

Jergitsch: Ja, man könnte zum Beispiel den Reputationswert errechnen für gewisse Medien oder messen, wie lange jemand braucht, um einen Artikel zu lesen. Ein längerer Artikel hat mehr Qualität, könnte man annehmen.

STANDARD: "Hitler hätte eine Facebook-Fanpage", schreiben Sie im Buch. Welche Parallelen ziehen Sie in der Kommunikation?

Jergitsch: Dass Massenmedien von Autokraten missbraucht werden, ist ja nichts Neues. Bereits Napoleon hat in Paris Bulletins seiner Heldentaten aufhängen lassen. Die Nazis waren die erste rechtsextreme Partei in Bayern, die eine eigene Druckerpresse hatte. Mit ihrem "Völkischen Beobachter" hatten sie von Anfang an einen eigenen Kanal, auf dem sie ihr Weltbild transportieren konnten. Sie haben Medien bis zur Machtergreifung und darüber hinaus strategisch eingesetzt. Das sollte uns als Mahnung dienen. Wir sollten keineswegs unterschätzen, wie Autokraten mit Massenmedien umgehen und sie missbrauchen. Wir sind zwar nicht in einer Situation wie 1932, wir sehen aber auch heute etwa am Beispiel Trump, wie viel Schaden diese sozialen Medien anrichten können.

STANDARD: Mit der Aktion, dass Frank Stronach als Bundespräsident kandidiert, haben Sie Medien reihenweise reingelegt. Die eigentliche Intention war aber zu zeigen, wie Politik funktioniert?

Jergitsch: Es spricht nicht für die Politik, wenn sich ein paar Satiriker zwei Stunden vor einen Laptop setzen und in der Lage sind, eine politische Bewegung so glaubwürdig im Internet zu präsentieren, dass sogar die APA eine Meldung daraus macht. Medien kommen natürlich auch nicht gut weg. Sie hätten bei Stronach nachfragen können, aber das vorrangige Ziel war, diese Plattitüden und die hohlen Fassaden, die heute unsere Politiker ausmachen, zu entlarven.

STANDARD: Sie haben sich als Stronachs Pressesprecher ausgegeben und Medienvertreter angelogen, die nachgefragt habe. Viele waren darüber erzürnt.

Jergitsch: Als unser Telefon im Sekundentakt geläutet hat wegen Nachfragen, ob der Antritt wirklich ernst gemeint sei, taten wir das, was jeder echte Politiker gemacht hätte – lügen.

STANDARD: Die APA hat von einem "Debakel" gesprochen und als Reaktion auf die Stronach-Geschichte beschlossen, ihre Qualitätsstandards weiter zu verbessern.

Jergitsch: Das wahre Debakel ist, dass man mit einer Kampagne, die nur aus heißer Luft und Phrasen besteht, als Bundespräsidentschaftskandidat durchgeht. Dass so viele Medien darauf reingefallen sind, zeigt ja auch, wie wenige Inhalte sie sich von der Politik erwarten. Das zeigt den Zustand der gegenwärtigen Politik.

STANDARD: Und auch den Zustand vieler Medien, die darauf reinfallen, ohne es zu recherchieren?

Jergitsch: Natürlich. Das zeigt, wie Medien darauf erpicht sind, die Schnellsten zu sein, und sich nicht die Zeit nehmen, bei Stronach oder seinem Anwalt nachzufragen. Wobei ich schon eine Lanze brechen muss für die Medien. Ich persönlich vertraue eher Medien, die eine Falschmeldung demütig löschen, als jenen Medien, wo Falschmeldungen die Blattlinie sind – wie zum Beispiel bei Servus TV.

STANDARD: Warum?

Jergitsch: Letztens hat wieder einmal Senderchef Ferdinand Wegscheider Verschwörungstheorien verbreitet. Über 9/11. Wo ich mich dann schon frage: Haben s' dem ins Hirn g'schissen? Die Vorstellung, dass die Amerikaner einen Vorwand brauchen, um in eine leere Steppe einzumarschieren, und deshalb tausende eigene Menschen töten – das ist so hirnverbrannt und an Blödheit gar nicht zu überbieten. Die USA haben nie einen Grund gebraucht für einen Krieg, siehe Irak. Es ist wohl auch kein Zufall, dass Salzburg und Oberösterreich, wo Servus TV stark verbreitet ist, in der Impfstatistik zu den Schlusslichtern zählen. Servus TV ist eine Plattform für wissenschaftliche Outcasts. Wenn du von 100 Forschern den einen ins Studio setzt, der den 99 anderen widerspricht, dann ist das keine journalistische Ausgeglichenheit, sondern einfach nur schlechter Journalismus. Servus TV richtet auf sehr unterschwellige Weise großen Schaden an.

STANDARD: Ein Beispiel?

Jergitsch: Ich war im XXX Lutz. Neben mir hat eine Verkäuferin ohne Maske ihrem Kollegen erklärt, dass sie sich sicher nicht impfen lässt, weil sie gestern auf Servus TV diese tolle Doku über irgendeine Wahrheit über die Impfung gesehen hat. Die beanspruchen für sich, dass sie gegen den Mainstream sind. Aber wenn das heißt, dass du einfach Falschmeldungen bringst und den Leuten Angst machst, dann finde ich das moralisch und ethisch zutiefst verwerflich.

STANDARD: Mittlerweile hat sich Servus TV immerhin von Corona-Verharmloser und Stammgast Sucharit Bhakdi distanziert nach dessen antisemitischem Ausritt.

Jergitsch: Ich finde den Bhakdi nicht unbedingt schlimmer als den Wegscheider, wenn man sich seinen letzten satirischen Kommentar anhört.

STANDARD: Er sagt, es ist Satire.

Jergitsch: Ist "Mein Kampf" von Adolf Hitler auch Satire? Ich finde, Satire darf kein Label sein für Falschmeldungen, die nur noch polarisieren, wütend machen und spalten. Wenn ich mich hinstelle und sage: Impfungen machen unfruchtbar. Was hat das mit Satire zu tun? Satire soll die Realität persiflieren und nicht Leute in die Irre führen.

STANDARD: Noch zu ÖVP-Politiker Andreas Hanger, den Sie geklagt haben: Ist es legitim, einfach so Politiker zu klagen?

Jergitsch: Prinzipiell kann jeder Klage einbringen. Das ist wichtig im Rechtsstaat. Wir wollten mit dieser Aktion zum einen die destruktive Rhetorik von Hanger entlarven, und zum anderen ging es uns im Kern darum, diese Steuergelder, die wir durch Regierungsinserate eingenommen haben, zu retournieren. Da die Klage geringfügig mehr kostet, als die Einnahmen über Werbung gebracht haben, halten wir das für ein probates Mittel. Wir warten immer noch auf eine Entscheidung, wann der Prozess angesetzt wird. Meine Vermutung ist, dass das Gericht derzeit überhäuft ist von dämlichen, sinnlosen Spaßklagen der ÖVP gegen Medien. Etwa gegen den "Falter" oder Twitter-User. So wird unsere wichtige Klage nicht bearbeitet.

STANDARD: Sie verwenden im Buch durchgehend das Binnen-I. Warum?

Jergitsch: Ich habe das Binnen-I immer etwas skeptisch gesehen, weil ich mir gedacht habe, wie soll das der Gleichberechtigung helfen? Bis ich eine Studie gelesen habe. Wenn man zum Beispiel Leute fragt, wie ihr Lieblingsschauspieler heißt, denkt man aufgrund der männlichen Form statistisch gesehen eher an einen Mann. Mich hat beeindruckt, wie subtil diese Mechanismen wirken und wie sehr Sprache unser Denken prägt. Deswegen war es mir ein Anliegen, im Buch das Binnen-I zu verwenden. Einfach um anzuerkennen, dass dieser Effekt sehr wohl existiert und es nicht eine Wahnvorstellung von irgendwelchen Twitter-Feministinnen ist. (Oliver Mark, 18.9.2021)