Heribert Prantl, ehemaliger Leiter der Ressorts Innenpolitik und Meinung sowie Mitglied der Chefredaktion der "Süddeutschen Zeitung", warnt in seinem Gastkommentar davor, in der Corona-Krise Grundrechte zur Disposition zu stellen.

Man kommt geimpft auf die Welt. Man kommt auf die Welt und ist von da an und zeitlebens geimpft mit Grundrechten. Man hat sie von Anfang an, man hat sie, weil man Bürgerin oder Bürger, man hat sie, weil man Mensch ist. Grundrechte sind im demokratischen Rechtsstaat keine Privilegien, die man sich erst durch ein bestimmtes Handeln oder durch ein bestimmtes Verhalten verdienen kann oder verdienen muss.

Grundrechte sind keine Belohnung, keine Gratifikation, kein Bonus, kein 13. Monatsgehalt. Sie sind einfach da, jeder hat sie, jeder darf sie in Anspruch nehmen. Sie gelten unabhängig vom Alter, unabhängig vom Einkommen, unabhängig von Rang und Hautfarbe, unabhängig von Glauben und Weltanschauung, unabhängig vom Gesundheitszustand und vom Intelligenzquotienten. Der Mensch ist von Anfang an mit Grundrechten geimpft. Es ist dies ein Schutz, der da ist und da bleibt, wie immer das Leben eines Menschen verläuft, welches Leben er auch lebt.

Hoffen auf den Stich: Der Druck auf Ungeimpfte wird stetig größer. Zu Recht?
Foto: EPA/Will Oliver

Im Staat der Pandemie ist das anscheinend anders. Da ist man nicht von vornherein und für immer mit Grundrechten geimpft, da wird man für die Grundrechte geimpft. Man muss sich mit Biontech oder Astra Zeneca impfen lassen, um die Grundrechte voll und ganz in Anspruch nehmen zu dürfen. Wer sich nicht impfen lässt – der wird zwar nicht festgehalten und zwangsgespritzt, er wird aber gedrängt und gezwiebelt. Er wird von der gesellschaftlichen Teilhabe mehr und mehr praktisch ausgeschlossen. Das Alltagsleben öffnet sich nur noch den Geimpften und den Gesundeten – den Ungeimpften allenfalls und vielleicht dann, wenn sie sich testen lassen. Für Ungeimpfte soll es in Deutschland auch keine Lohnfortzahlung mehr geben, wenn sie in Quarantäne müssen, weil ihr Kind sich in der Schule Corona eingefangen hat. Es gibt Forderungen, dass Ungeimpfte, wenn sie ins Krankenhaus müssen, dafür einen Eigenbeitrag zahlen müssen, "Selbstbehalt für Nichtgeimpfte" heißt es in Österreich.

Es entsteht eine finanzielle Impfpflicht. Wer sich nicht impfen lässt, soll blechen. Wer nicht hören will, muss fühlen: Weil er sich nicht solidarisch verhält, wird er aus der Solidargemeinschaft verstoßen. Das Argument lautet: Warum soll die Gesellschaft der Geimpften, die, die sich nicht mehr testen lassen muss und die keine Quarantäne mehr braucht, warum soll sie für die anderen, für die Nichtgeimpften, zahlen? Warum? Weil das unsere Gesellschaft ausmacht.

"Mit Haudrauf, Bedrängen, Beschimpfen und Beleidigen gelingt das Werben für das Impfen auch nicht. Das gelingt mit kluger Aufklärung, wie das einst bei der Kinderlähmung gelang."

Die solidarische Gesellschaft ist nicht nur für die da, die angeblich alles richtig machen. Sie ist auch für die da, die echt oder angeblich einiges falsch machen. Solidarität hängt nicht davon ab, dass der, der Hilfe braucht, sich so verhält, wie es sich die anderen erwarten. Das Spital ist daher auch für den geöffnet, der betrunken an den Baum gefahren ist. Das Spital behandelt auch den, der sich selber vorsätzlich vergiftet hat. Und die Wasserwacht rettet auch den, der verbotenerweise ins Wasser gesprungen ist. Die Gesellschaft verabschiedet sich von dieser Solidarität, wenn sie den schneidet und schurigelt, der sich nicht impfen lässt – obwohl es ja angeblich keine Impfpflicht gibt.

Etliche Staaten in Europa haben eine Impfpflicht für bestimmte Gruppen angeordnet: für Lehrpersonal, für Pflegepersonal, für alle, die im Gesundheitswesen arbeiten. Daran knüpfen sich freilich einige Fragen: Dürfen dann Lehrer nicht mehr unterrichten, bis sie geimpft sind? Wird das Gehalt des ungeimpften Personals gekürzt? Trifft sie quasi dann eine Art Berufsverbot? Und: Wenn eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen eingeführt wird, erhöht das nicht den Widerstand derjenigen, für die keine Pflicht besteht? Ich denke: Misstrauen, Bequemlichkeit und diffuse Angst löst man nicht mit Zwang auf, sondern mit überzeugender Kommunikation.

Kein probates Mittel

Das Corona-Denken ist dabei, die Individualgrundrechte zu vergemeinschaften und der Volksgesundheit unterzuordnen. Die Individualrechte werden kollektiviert. Der einzelne Mensch und seine Rechte treten zurück hinter dem Großen und Ganzen, hinter kollektiven Werten. Ein freiheitsfeindlicher Zeitgeist diskreditiert Grundrechte als Egoistenrechte. Das ist falsch. Es sind schlicht Rechte, die voraussetzungslos gelten, für jeden; man kann und muss sie sich nicht erwerben, auch nicht durch eine Impfung. Sie gelten für Geimpfte und Ungeimpfte.

Die Gefahr in der Gefahr sehe ich darin: Die Menschen werden daran gewöhnt, dass heftige Einschränkungen der Grund- und Bürgerrechte zu den Bewältigungsstrategien einer Krise gehören – und dass das Unverhältnismäßige in Krisen als verhältnismäßig gilt. Die Begleitmelodie dazu lautet: Man kann sich ja die Grundrechte durch ein bestimmtes Verhalten wieder verdienen. Die Individualgrundrechte werden aber auf diese Weise nicht nur eingeschränkt, sie verändern auch komplett ihren Charakter.

Ich bin ganz eindringlich für das Impfen, aber gegen die Impfpflicht. Eine Impfpflicht ist kein probates Mittel, um Menschen vom Sinn einer Impfung zu überzeugen, zumal dann nicht, wenn die Politik monatelang versichert hat, dass sie nicht kommt. Mit Haudrauf, Bedrängen, Beschimpfen und Beleidigen gelingt das Werben für das Impfen auch nicht. Das gelingt mit kluger Aufklärung, wie das einst bei der Kinderlähmung gelang. Man darf Gegner einer Impfpflicht auch nicht einfach pauschal als "Impfgegner" abservieren. Viele haben gar nichts gegen Impfung, sind selber geimpft, also gewiss keine Impfgegner. Sie haben aber etwas gegen staatlichen Zwang – sie sind also Zwangsimpfungsgegner. Das ist etwas anderes.

Die Gesellschaft locken

Und wer eine Impfung aus irrationalen Ängsten heraus ablehnt, der ist deswegen kein Verfassungsfeind. Es ist auch derjenige kein Verfassungsfeind, der einem paternalistischen Staat misstraut, der also befürchtet, dass die Fürsorglichkeit des Staats obsessiv und dauergrundrechtsbedrängend werden könnte.

Es ist Zeit für Abrüstung in der Corona-Debatte. Abrüstung, Aufklärung und Achtung der Grundrechte. Das ist die Drei-A-Regel für die kommenden Monate. Und man sollte die ganze Gesellschaft locken: Wenn eine Impfrate von 85 Prozent erreicht ist, fallen alle Beschränkungen, alle Corona-Regeln, alle Maskenpflichten weg. Dann ist, sozusagen, Weihnachten. (Heribert Prantl, 18.9.2021)