Wenn wir Glück haben, geht Horstl bei Pausen in den "Stand-by-Modus". Wenn wir Pech haben, stibitzt er unser Panini.

Foto: Antonia Rauth

"Horstl! Er läuft weg!" Eben noch ist mein Freund Armin vor Freude jauchzend aus dem eiskalten Bergsee aufgetaucht, jetzt gestikuliert er wild und zeigt auf unseren Esel Horstl hinter mir. Oder besser gesagt: auf die Stelle, wo der er noch bis vor wenigen Sekunden seelenruhig gegrast hat. Jetzt galoppiert Horstl in für ihn untypisch schnellem Tempo über das felsige Gelände davon.

Und wie er eben ist, hat er sich dafür den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ausgesucht. Armin steht splitterfasernackt im Wasser, ich ohne Bergschuhe am Ufer. Fluchend sprinte ich los, barfuß den Berg hinab, die hart erkämpften Höhenmeter hinunter. Es ist einer dieser Momente, in denen ich mich frage: "Wieso tue ich mir diesen Irrsinn eigentlich an?"

Über die Alpen mit einem PS

Dieser "Irrsinn" ist eine Alpenüberquerung mit unserem Esel Horstl. Der Vierbeiner gehört tatsächlich uns, Armin hat ihn vor sieben Jahren gekauft, um mit ihm von Innsbruck nach Rom zu gehen. Seitdem wandern wir, wann immer wir die Gelegenheit haben, mit ihm durch die Welt – das restliche Jahr über lebt Horstl bei einem Bauern in Tirol, in Gesellschaft von mehreren anderen Eseln.

Alpenüberquerung mit unserem Esel Horstl
Foto: Antonia Rauth

Während die meisten Pärchen in unserem Freundeskreis sich also auf Santorin die Sonne auf den Bauch scheinen lassen, machen wir uns wieder einmal mit Rucksack und Packtaschen auf, um mit Horstl den Romediusweg zu gehen – rund 180 Kilometer, allerdings in die umgekehrte Richtung.

Unser Esel ist dabei nicht Gepäckträger, sondern gleichberechtigter Dritter im Wanderbund. Jeder trägt seine Sachen, nur unser Zelt bekommt Horstl aufgeladen. Dafür schleppen wir sein Wasser. Immerhin ist er derjenige, der zu seinem Wanderglück gezwungen wird!

Tag 1

Wir starten an einem heißen Augusttag von Innsbruck nach San Romedio im Nonstal, um von dort aus zur Romediuskirche in Thaur zu gehen. Allerdings ist es nicht irgendein Samstag im August, sondern Ferragosto. Dem stärksten Reisewochenende in Italien sei Dank, haben wir kurzfristig nur noch ein Zimmer in einem Hotel bekommen, das den Charme einer schlecht erhaltenen Bettenburg aus den 70er-Jahren verströmt.

Unser Esel ist nicht Gepäckträger, sondern gleichberechtigter Dritter im Wanderbund.
Foto: Antonia Rauth

Der Schlüssel für unser Zimmer ist nicht auffindbar, der Badezimmerschrank nur noch zur Hälfte erhalten und die Badewanne gesprungen. Trotzdem nehme ich mir fest vor, den Komfort noch einmal zu genießen. Immerhin muss ich mich in den nächsten Tagen mit einem Zelt mit Esel-Odeur zufriedengeben!

Tag 2

"Horstl heißt der Esel? Aber so heiße doch ich!" Dieser amüsierte Ausruf eines rüstigen Südtiroler Senioren ist es, der uns kurz vor dem letzten Anstieg trotz Schweiß und Erschöpfung noch einmal daran erinnert, wieso wir unsere Eselreisen so lieben. Den zweibeinigen Horstl treffen wir mit seiner Familie vor dem Zollhüttl am Gampenpass.

Er und seine Frau haben das historische Quartier übernommen. Sie wollen die Geschichte der alten Handelsstrecke bewahren, erzählen sie uns. Sie haben auch Bildbeweise dafür, dass wir bei weitem nicht die ersten Eselwanderer auf dieser Strecke sind.

Ein Buch mit einem Foto, das um das Jahr 1900 aufgenommen worden sein dürfte, zeigt einen Händler samt Esel, der mit ihm vor ebendiesem Häuschen posiert. Das Bild wird nachgestellt, wir bekommen dafür zur Erinnerung einen Zollstempel in Horstls Pferdepass. Danach scheint es, als würde Horstl den Packeseln der Vergangenheit nacheifern – mit für ihn untypischen vier Kilometer pro Stunde erklimmen wir die letzten Höhenmeter bis zu unserem Tagesziel!

Tag 3

Ich winke – und die Frau am Fenster winkt zurück. Höfliche Menschen sind schön, doch in dieser Situation erscheint mir die Geste wie blanker Hohn. Unser Reisetrio steht im Innenhof des Schlösslein Baslan, und es regnet in Strömen. Wir wurden hierher verwiesen, da es im angrenzenden Reitstall ein Plätzchen für Horstl geben könnte.

Wenn andere Reisende Armins Rucksack mit zwanzig Kilo Gewicht sehen, fragt so mancher, ob nicht wir die Esel sind.
Foto: Antonia Rauth

Doch der Hof ist wie ausgestorben – und die Hilfe der Gestalt im Fenster beschränkt sich auf einen freundlichen Gruß, von dem uns leider auch nicht wärmer wird. Langsam geben wir den Glauben daran auf, dass wir noch einen trockenen Schlafplatz finden. Doch gerade als wir überlegen, im verwaisten Geräteschuppen die Nacht zu verbringen, werden unsere Gebete erhört.

Bei der Telefonnummer der Gutsverwalterin meldet sich beim fünften Versuch eine freundliche Stimme – natürlich dürfe Horstl in der Außenbox die Nacht verbringen! Und wir sollen doch bitte im Reiterstüberl übernachten. Wenig später schlafen wir dort selig auf unseren Matten ein, die schnurrende Hofkatze zu unseren Füßen. Es gibt sie doch, die hilfsbereiten Menschen!

Tag 4

Wir nennen ihn Midlifecrisis-Malte. Er erwartet uns am Ziel unserer bis dahin anspruchsvollsten Tour. 1.600 Höhenmeter haben wir von Meran über das Dorf Tirol bis auf die Bockerhütte zurückgelegt. Doch wir waren nicht die Einzigen, die einen harten Tag hatten – auch Malte hat fast 1.000 Höhenmeter geschafft! Und Malte ist mitteilungsbedürftig.

Während wir bei unserem Feierabendbier eigentlich nur in Ruhe beobachten wollen, wie sich Horstl mit dem Hütten-Haflinger Carina anfreundet, klagt er uns sein Leid. Während Corona sei seine Ehe zerbrochen, weil seine Frau Schutzmasken und Impfstoffen vertraut habe.

Horstl und der Hütten-Haflinger Carina wurden dicke Freunde.
Foto: Antonia Rauth

Nun ist er auf Selbstfindungstrip und will mit einem Zelt die nächste Nacht an den Spronser Seen verbringen, um "seinen inneren Mann zu finden". Ich verkneife mir meinen Kommentar, denn Malte hat nur einen Schlafsack für plus 20 Grad dabei. Er brauche keinen "Synthetik-Schnickschnack." Die nächtliche Kälte auf 2.500 Höhenmetern wird ihm deutlicher als ich zu verstehen geben, dass es durchaus Sinn ergibt, modernen Erfindungen zu vertrauen.

Tag 5

Es ist der Tag von Horstls spektakulärem Fluchtversuch an den Spronser Seen. Doch ebendieser Tag zeigt mir, wie nah nervenaufreibende Verfolgungsjagden und pures Glück zusammenliegen können. Denn nur wenig später stehen wir am Spronser Joch, dem höchsten Punkt unserer Reise. Horstl wälzt sich genüsslich im Schutt am Kamm, und Armin und ich blicken ins Tal, auf die Bergseen, die Gipfel unter uns.

Nie waren wir so stolz auf unseren Gebirgsesel! Beim Abstieg kommt dann aber die Ernüchterung: In unserem Tagesziel Pfelders gibt es kein einziges freies Bett. Wir schlafen also wieder im Zelt, im Garten eines Reitstalls.

Horstl muss sich mit einer dreckigen Box zufriedengeben, die wir selbst notdürftig ausmisten. Dafür dürfen wir am nächsten Tag 30 Euro Stellgebühr bezahlen – und ich verliere kurzzeitig die Zuversicht. Wie lange werde ich noch auf meine wohlverdiente Dusche warten müssen?

Tag 6

Purer Luxus hat einen Namen: Clara. Als ich auf der nächsten Etappe schon darüber sinniere, ob Claus Gatterers Buch über seine Kindheit in Südtirol vielleicht doch nicht ganz zufällig "Schöne Welt, böse Leit" heißt, geschieht das Wunder.

Eselwandern erfordert nun einmal auch Eselsgeduld.
Foto: Antonia Rauth

Während uns zuvor versichert wurde, dass das gesamte Passeiertal restlos ausgebucht sei, weiß man im Tourismusbüro noch von genau einem freien Zimmer – oder besser gesagt einer Suite. Mit wenig Hoffnung, dass man uns dort mitsamt unserem Esel plus dem Odeur, das wir mittlerweile verströmen, aufnimmt, fragen wir dennoch nach. Und siehe da!

Schneller als wir "I a" sagen können, organisiert man einen Stall für Horstl, und wir können die gerade zufällig frei gewordene "Suite Clara" beziehen – samt Jacuzzi auf der Dachterrasse. Wir sind uns sicher: Noch nie haben Gäste diesen Luxus so zu schätzen gewusst!

Tag 7

Manche Fehler macht man im Leben nur einmal. Zum Beispiel eine Kuhherde von oben nicht gut genug inspizieren und das Jungtier übersehen. Wie oft habe ich als ehemalige Lokalredakteurin über Kuhattacken berichtet und mich über die naiven Urlaubsgäste echauffiert, die sich so in teils lebensgefährliche Situationen bringen!

Und dann stehen wir selbst plötzlich in einer steilen Wiese unterhalb des Jaufenpasses und sind von Kühen umzingelt. Während wir wissen, wie wichtig es jetzt ist, ruhig zu bleiben, geht Horstl in den Verteidigungsmodus.

Daraufhin rettet uns nur noch Armins ehemaliges Kuhhirten-Know-how. Eigentlich schwören wir uns danach, niemandem von unserer Dummheit zu erzählen. Doch an dieser Stelle mein Appell: Unterschätzen Sie nie eine Mutterkuh, sonst sind Sie wirklich ein Esel!

Tag 8

Tausche Esel gegen Drahtesel! So lautete das Motto auf unserer Etappe vom Jaufental bis auf den Brenner. Von Sterzing aus quälen wir uns mit Horstl den Brennerradweg hinauf, und jedes vorbeizischende E-Bike erscheint uns wie blanker Hohn.

Wieso muss unser Esel auch ausgerechnet heute seinem Ruf der Sturheit nachkommen? Legen wir den Mantel des Schweigens über diese dunklen Stunden, in denen öfters das Wort "Salami" in Bezug auf Horstls Zukunft fiel. Eselwandern erfordert nun einmal auch Eselsgeduld.

Unser Ziel ist der eigentliche Start des Romediuswegs in Thaur.
Foto: Antonia Rauth

Das Finale

Je näher wir Innsbruck kommen, umso mehr verschwimmen unsere Eindrücke. Jetzt haben wir es fast geschafft, nur noch 30, 25, 20 Kilometer! Nach einer Nacht in Matrei und einer in Innsbruck, wo Horstl beim letzten Stadtbauern in Pradl Quartier findet, nehmen wir die finale Etappe nach Thaur in Angriff. Und auf den letzten Metern wird uns noch einmal bewusst, dass wir eben doch auf einem Pilgerweg unterwegs sind. Der Kreuzweg, der sich den steilen Weg zur Romediuskirche hinaufwindet, wird zum Martyrium.

Doch dann haben wir es geschafft! 180 Kilometer, rund 7.000 Höhenmeter und anderthalb Wochen, die sich wie ein Jahr anfühlen, liegen hinter uns. Und während ich vor dem Kirchlein Horstl beim Grasen zusehe, denke ich nur: Mein persönliches Glück liegt nicht auf dem Rücken irgendeines Pferdes – sondern auf den Wegen, die ich mit diesem Esel noch bezwingen will! (Antonia Rauth, 18.9.2021)