Die Impfung für unter Zwölfjährige ist noch nicht zugelassen. Eine sogenannte Off-Label-Impfung ist aber möglich.

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Gut 450 Impfdosen hat Andreas Dóczy bisher verimpft. Ein Drittel davon hat der Wiener Kinderarzt an unter Zwölfjährige verabreicht, also "off-label", ohne Zulassung der Europäischen Arzneimittelagentur und auch ohne Empfehlung des Nationalen Impfgremiums. "Ich kann die Risikoabwägung verantworten", sagt der 61-Jährige.

Noch nie wurde ein Impfstoff weltweit zur gleichen Zeit so häufig verimpft und seine Auswirkungen so genau verfolgt, so Dóczy. Er bewertet das Risiko einer Erkrankung wesentlich höher als jenes, dass ein Kind schwere Impfnebenwirkungen davonträgt. Aktiv beworben habe er die Impfung nie, vielmehr sind in den vergangenen Monaten immer mehr Eltern von sich aus zu ihm gekommen: "Ich habe lediglich die Bitten der Eltern angehört, mit ihnen diskutiert und entschieden: Wir machen das."

Viele Eltern, sagt Dóczy, seien verzweifelt: Bekommt mein Kind Covid? Wird ein weiteres Familienmitglied, das vielleicht zur Risikogruppe gehört, angesteckt? Auch die Wiener Hausärztin Lisa Liu (ihr echter Name ist der Redaktion bekannt) hat bereits ihre eigenen Kinder im Alter von unter zwölf Jahren geimpft.

"Es hat sich schon abgezeichnet, dass sich die Kinder in den Schulen in großer Zahl anstecken werden", sagt Liu, daher habe sie keine andere Möglichkeit gesehen. Besonders nachdem der Sohn einer Kollegin nach einer Covid-19-Erkrankung mit dem PIMS-Syndrom auf die Intensivstation musste, war für sie klar: Das Risiko für eine derartige Erkrankung möchte sie nicht eingehen, das Restrisiko der Impfung nahm sie in Kauf. "Es gibt einfach schon ausreichend Daten, dass die Impfung für Kinder sicher ist und dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie zugelassen wird. Aber diese Zeit ist einfach zu lang", sagt Liu, die in ihrer Praxis bereits 25 Kinder unter zwölf geimpft hat.

Risiko-Nutzen-Abwägung im Einzelfall

In der Regel verläuft eine Covid-19-Infektion bei Kindern milder als bei Erwachsenen. Bei etwa einem von 5.000 bis 1.000 Kindern löst sie eine Hyperinflammation aus, das sogenannte PIMS-Syndrom. Aufgrund der Infektion mussten in Österreich 2,4 Prozent der Kinder hospitalisiert werden. Tatsächlich könnte diese Rate aber niedriger sein, da es eine Dunkelziffer an Infizierten gibt und etwa Säuglinge auch vorsichtshalber aufgenommen wurden.

"Wir wissen aber, dass es einzelne Kinder mit chronischen Erkrankungen gibt, die ein erhöhtes Risiko haben", sagt der Kinderarzt und Leiter der Innsbrucker Kinderklinik Thomas Müller. Dazu zählen etwa Kinder mit chronischen Lungen- oder Herzerkrankungen oder Patientinnen und Patienten, deren Immunsystem aufgrund von Vorerkrankungen medikamentös unterdrückt werden muss. Wie häufig Spätfolgen bei infizierten Kindern auftreten, ist nicht abschließend geklärt – Studien mit Vergleichsgruppen gehen von einem bis fünf Prozent aus. Fest steht aber: Zahlreiche Kinder werden sich in den kommenden Wochen infizieren.

Auch Müller hat Mails von verzweifelten Eltern bekommen. "Mir steht es nicht zu, eine Off- Label-Impfung grundsätzlich zu empfehlen", sagt Müller. "Ich kann ihr nach einer sorgfältigen Risiko-Nutzen-Abwägung im Einzelfall aber viel abgewinnen."

An der Kinderklinik Innsbruck selbst gibt es keine Impfstraßen. Die Eltern, die sich an ihn wenden, vermittelt Müller deshalb an die wenigen Kinderärzte, die die Impfung durchführen. "Das muss immer eine Einzelfallentscheidung sein", sagt er. Neben Vorerkrankungen kann auch die Angst der Kinder oder Eltern durchaus eine Rolle spielen. "Nur weil es so etwa einfacher ist, ins Restaurant zu gehen, sollte man ein Kind natürlich nicht off-label impfen", sagt Müller. "Wenn das Kind deshalb aber nicht zur Schule geht oder nicht am sozialen Leben teilnehmen kann, muss ich es zumindest erwägen."

Gibt es ausreichend Daten?

Biontech/Pfizer wollen die Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit ihres Impfstoffs bei Fünf- bis Elfjährigen in den kommenden Wochen bei den Zulassungsbehörden einreichen. Expertinnen und Experten rechnen damit, dass es danach zügig zu einer Zulassung kommen wird. Auch die reduzierte Dosis und das Impfintervall, für welche eine Zulassung angesucht wird, gaben die Hersteller inzwischen bekannt. Es ist jene Dosis, mit der Kinderärzte wie Andreas Dóczy und Lisa Liu impfen. Veröffentlicht wurden die Studienergebnisse aber noch nicht.

Der Infektiologe Herwig Kollaritsch vom Nationalen Impfgremium (NIG) sieht die Off-Label-Impfung deshalb kritisch. Ein Off-Label-Use sei dann zu rechtfertigen, wenn es evidenzbasiert ist, also ausreichend Daten vorliegen, die die Entscheidung unterstützen. "Wenn ich das nicht habe und es trotzdem mache, ist es eigentlich fahrlässig", sagt Kollaritsch, der die Datenlage für noch unzureichend hält. Man müsse eher mit nichtpharmazeutischen Maßnahmen versuchen, die Infektionsgefahr so gering wie möglich zu halten, und die Wochen bis zur Zulassung abwarten. "So viel Geduld muss man aufbringen", sagt er.

In der Pädiatrie ist der Off-Label-Use von Medikamenten weitverbreitet, da klinische Studien zur Anwendung von Arzneimitteln an Kindern und Jugendlichen oft fehlen. Für die meisten Off-Label-Anwendungen gibt es aber zumindest wissenschaftliche Falldokumentationen oder Empfehlungen von Fachgesellschaften oder Impfkomitees. Im Fall der Covid-19-Impfung fehlen diese noch. Zwar wurden in den USA bereits mehr als 200.000 Kinder unter zwölf Jahren zumindest einmal geimpft, Impfreaktionen oder Nebenwirkungen wurden dabei aber nicht systematisch abgefragt.

Ärztekammer: Impfung nur in Ausnahmenfällen

"Wir verwenden viele Mittel off-label, weil wir müssen", sagt Rudolf Schmitzberger, Leiter des Impfreferats der Österreichischen Ärztekammer. Bei der Corona-Schutzimpfung würde er das aber nur in Ausnahmefällen empfehlen – etwa wenn jemand in der Familie besonders krank ist oder zu einer Risikogruppe gehört.

Der Präsident der Ärztekammer, Thomas Szekeres, rät ebenfalls nicht zu einer Impfung, aber auch nicht explizit davon ab. "Wenn ich Kinder unter zwölf hätte, die in die Schule gehen, und die Gefahr bestehen würde, dass sie sich anstecken, würde ich zu einem Kinderarzt gehen und mich beraten und sie dann möglicherweise auch impfen lassen", sagt Szekeres.

Generell komme es bei Off-Label-Impfungen darauf an, ob allgemein bekannte Studien oder wissenschaftliche Publikationen existieren. Je weniger existiert, umso mehr müssen Ärztinnen und Ärzte aufklären. "Der dritte Stich ist derzeit auch ein Off-Label-Use, aber gleichzeitig vom Impfgremium empfohlen, und es gibt viele wissenschaftliche Arbeiten dazu, die das auch für sinnvoll erachten", sagt Szekeres.

Zuletzt zeigten sich Wissenschafter der Universität Oxford über das Risiko einer Herzmuskelentzündung nach Impfungen mit dem Vakzin von Biontech/Pfizer besorgt. Vor allem bei Burschen wurden nach der zweiten Dosis gehäuft Herzmuskelentzündungen beobachtet – laut Schätzungen der deutschen Ständigen Impfkommission (Stiko) in einem Verhältnis von 1 zu 15.873. In einer Studie sollen deshalb verschiedene Impfschemata mit einer reduzierten Zweitdosis und Zweitimpfungen mit den Vakzinen von Moderna oder Novavax getestet werden.

Rechtlich hat eine Off-Label-Impfung Folgen

"Herzmuskelentzündungen sind etwas, auf das wir durchaus achten müssen", sagt auch Thomas Müller. Was sie genau auslöst, ist noch nicht geklärt. Medizinerinnen und Mediziner vermuten aber, dass die Impfung bei Kindern und Jugendlichen aufgrund ihres angeborenen Immunsystems öfters systemische Entzündungen auslösen kann. Weitaus häufiger als nach der Impfung ist das auch nach einer viralen Infektion der Fall.

Die verminderte Dosis, welche die Hersteller nun für die Impfung von unter Zwölfjährigen vorsehen, könnte das Risiko für diese seltene Nebenwirkung nochmals schmälern, meint Müller. Nach der Impfung sollten sich Kinder grundsätzlich schonen und drei Tage auf Sport verzichten. "Es braucht natürlich eine Prüfung durch externe Expertinnen und Experten", sagt Müller. "Viele sorgen sich aber jetzt um ihre Kinder. Ich finde es deshalb wichtig, dass es Ärzte gibt, die hier Verantwortung übernehmen und vorangehen."

Rechtlich hat eine Off-Label-Impfung nämlich Folgen – sowohl für die behandelten Personen als auch die Ärztinnen und Ärzte. Sie müssen die Patientinnen und Patienten darüber aufklären, dass ein Arzneimittel ohne Zulassung verwendet wird und welche Risiken vorliegen, erklärt der Jurist Karl Stöger von der Universität Wien, der auf Medizinrecht spezialisiert ist.

Treten dabei Komplikationen auf, greift das Impfschadengesetz nicht, und auch der Hersteller haftet grundsätzlich nicht. Leistungen wie Schmerzengeld oder etwa die Mehrkosten bei einer Behinderung können dann nur bei der Ärztin oder dem Arzt erfolgreich geltend gemacht werden.

Umgekehrt gibt es aber ebenso eine Aufklärungspflicht. Das bedeutet: Wenn ein Kind etwa ein hohes Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf hat, müsste ein Arzt zumindest darauf hinweisen, dass es Off-Label-Impfungen gibt. Eine Behandlungspflicht besteht aber nicht. (Eja Kapeller, Levin Wotke, 18.9.2021)