Jochen Hörisch, ehemals Lehrender in Mannheim, konzediert Angela Merkel "großartige Trickserei".

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Als Literaturwissenschafter hat sich Jochen Hörisch mit der "Poesie des Geldes" befasst, zudem mit der öffentlichen Wirksamkeit liturgischer Zeichen (Brot und Wein, 1992). Die Frage an ihn lautet: Warum finden in Deutschland in einer Woche Bundestagswahlen statt – und praktisch niemand empfindet einen Epochenbruch?

STANDARD:Mit Angela Merkels Kanzlerinnenschaft geht eine 16-jährige Ära zu Ende. Trotz laufenden Wahlkampfs werden kaum Umrisse eines Politikwechsels deutlich. Wie erklären Sie sich diese Abstinenz in Sachen Sinnstiftung?

Hörisch: Die Parteien haben sich – mit Ausnahme der AfD – einander so weit angenähert, dass zwischen ihnen keine großen Bedeutungsdifferenzen mehr festzustellen sind. Merkel hat die CDU brutal sozialdemokratisiert. Dazu kommt: Welche Partei ist heute nicht ökologisch, nicht liberal, nicht rechtsstaatlich? Auf der anderen Seite wurden durchaus Signale gesetzt. Stellen Sie sich vor, vor 33 Jahren hätte jemand prophezeit, eine kinderlose, geschiedene Frau aus der Ex-DDR würde im wiedervereinigten Deutschland auf dem Ticket der CDU zur Kanzlerin gewählt. Alle hätten gesagt: "Hörisch, du trinkst zu viel! Was soll die Prognose?"

STANDARD: Bestand nicht eine der hervorstechenden Eigenschaften Merkels gerade in ihrer Eigenschaftslosigkeit?

Hörisch: In Anspielung auf Robert Musil könnte man sagen: Die großartige Trickserei von Merkel war es in der Tat, "die Frau ohne Eigenschaften" zu sein. Nehmen Sie es bitte als Kompliment, wenn ich sage: Sie hat eine genuin österreichische Politik betrieben, das "Durchwurschteln". Gemeint ist eine Bewältigung von Krisen ohne große ideologische Bedeutungsaufladung.

STANDARD: Was eint Merkels Krisenbewältigungsversuche?

Hörisch: Gehalten wurden keine bedeutungsschwangeren Reden, sondern es wurde eine Krise nach der anderen gewissenhaft abgearbeitet. Erst wenn man genau hinschaut, entdeckt man hochbedeutsame Veränderungen eines Politikwechsels. Es war einmal ein Mantra der CDU zu sagen: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Das hörte man aus jedem Unionsmund, und es war sachlich falsch. Das ist mit 2015 erledigt. Der Ausstieg aus der AKW-Technologie ist kaum weniger bedeutsam. Dass ein elaboriertes Industrieland freiwillig auf Hochtechnologie verzichtet: ein historisch einmaliger Fall.

STANDARD: Die These zu Merkels Regierungsstil?

Hörisch: Ihr charmanter Trick besteht in der handwerklichen Herangehensweise. Dadurch erlahmt die Aufmerksamkeit für wahre Bedeutungsverschiebungen. Wir besitzen zum Beispiel ein komplett neues Gender-Setting. Es ist Gott sei Dank normal geworden, dass wir nicht nur eine Bundeskanzlerin haben, sondern auch eine Verteidigungsministerin, und das zum zweiten Mal. Wir konstatieren eine Verschiebung der Macht hin zu Frauen. Alle diese Veränderungen liefen unter dem Radar, wurden nicht als Revolutionen wahrgenommen, beschreiben aber wichtige Mentalitätswechsel.

STANDARD: Umfragen signalisieren: Die Deutschen wünschen sich eine Fortsetzung des Altbewährten.

Hörisch: Olaf Scholz’ (SPD) Konzept, sich selbst als die bessere Merkel darzustellen, besitzt natürlich geniale Züge. Er sagt: "Wählt das Original!" Merkel habe die SPD imitiert. Dafür imitiert er nun Merkel, inklusive der Raute. Die Frage reicht aber tiefer. Lyotard hatte vor 40 Jahren recht, als er meinte: Wir leben im Zeitalter des Endes der großen Erzählungen. Ich erinnere mich als 70-Jähriger daran, wie wir vehement Freundschaften aufkündigten, weil der eine sich einem Sinnsystem zugehörig fühlte, das der andere ablehnte. Wer für Habermas war und die Kritische Theorie, der stritt sich mit Heidelberg, wo Gadamer und die Hermeneutiker saßen.

STANDARD: Traumhafte Verhältnisse.

Hörisch: Solche Kämpfe waren aufgeladen. Auf dem Spiel stand die knappe Ressource Sinn. Wenn ich auf die heutige Generation der Studis blicke, dann merke ich: Die großen Theorien vulgo Sinnfragen spielen keine große Rolle mehr. Alle sind mehr oder weniger emanzipiert, mehr oder weniger feministisch. Die gereizten Auseinandersetzungen, die wir rund um die gendergerechte Sprache führen, sind ja von seltsamer Oberflächlichkeit getragen. Wenn wir uns nur auf der Signifikanten-Ebene bewegen, lösen wir damit keine tiefenstrukturalen Probleme. Meine Diagnose gälte auch für den politischen Bereich: Die großen Fragen – soll man Familien besonders schützen, was passiert mit sexuellen Minderheiten – waren einstmals aufgeladen. Heute sind sie allesamt konsensuell entschieden. Wir leben in Deutschland in einer Konsensrepublik.

STANDARD: Ist das bedauerlich?

Hörisch: Für Leute, die gerne aufgeregt Sinndifferenzen miteinander austragen, ist das erst einmal enttäuschend. Der Unterhaltungswert ist gering. Auseinandersetzungen verharren auf der Ebene von Pseudokonflikten und Pseudoskandalen. Ja, und auch die handfesten Skandale sind nicht mehr das, was sie einmal waren! Wir beobachten dagegen heute eine Gereiztheit der kleinsten Differenzen. (INTERVIEW: Ronald Pohl, 18.9.2021)