Das Menschenbild vom motivationsgebenden Chef und motivationsnehmenden Mitarbeiter sei schlichtweg falsch.

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Im Jahr 1991 kam ein widerspenstiges Buch auf den Markt: Mythos Motivation. Der Autor ist der inzwischen bekannte Reinhard K. Sprenger, eine Art Übervater der Managementberater. Mit dem Buch begann, was Sprengers heutiges Markenzeichen ist: gängige Vorstellungen gegen den Strich zu bürsten.

Sich wiederholende Praxiserfahrungen im Einklang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen ließen den hellwach-zeitkritischen Geist an der Praktikabilität des herrschenden Mythos zweifeln, dass sich mit Unterstützung diverser Anreize Mitarbeiter in ergiebige Leistungswunder verwandeln ließen wie ein Pawlow’scher Hund. Sprengers Zweifel an diesem Glauben fanden breite Resonanz. Nur tiefere Wirkung blieb ihnen versagt. Dabei erschien 2014 bereits die 20. aktualisierte Ausgabe.

Nun soll eine limitierte Sonderausgabe neuen Schwung in die kritische Auseinandersetzung mit dem Mythos Motivation bringen. Sie widmet sich der Frage: Warum aber schließt sich nicht die Kluft zwischen dem, was die Wissenschaft weiß, und dem, was die Wirtschaft tut? Die Frage ist berechtigt. Denn, so der Dickbrettbohrer Sprenger: "Es gehört nach wie vor zum Standard, dass man ‚motivierende‘ Führungskräfte sucht. Das Menschenbild vom motivationsgebenden Chef und motivationsnehmenden Mitarbeiter ist offenbar strapazierfähig. ‚Leistungsentlohnung‘ – sogar für öffentliche Verwaltung, Krankenhäuser, Schulen – wird kaum mehr infrage gestellt, ‚erfolgsabhängige Vergütungskonzepte‘ werden von den fliegenden Händlern der Beratungsindustrie an allen Ecken angeboten, ‚Motivation als Managementaufgabe‘ ist ein Gemeinplatz."

Worum es Sprenger geht: Wenn jemand motiviert bei der Sache ist, dann ist das in der Regel sichtbar und spürbar. Das Problem besteht nun darin, dass mit Motivation ein Zustand bezeichnet wird – also jemand motiviert ist. Die Beweggründe dafür kommen dabei von innen, sie sind intrinsisch. Das heißt, Menschen handeln, weil es ihnen sinnvoll erscheint, Freude macht und belohnend ist. Gleichzeitig aber wird mit Motivation auch eine "bewegende Lenkung" bezeichnet – jemand wird motiviert, etwas zu tun.

Motivierung

Letztere ist also, argumentiert Sprenger, keine Motivation, sondern eine Motivierung. Die Beweggründe sind extrinsisch, sodass Menschen etwas tun, was nicht in sich selbst belohnend ist, sondern Mittel zu einem anderen, fremden Zweck. Extrinsische Motivation, sei ein im Menschen von außen entfachtes Feuer. Und so ein Feuer muss, um nachhaltig zu brennen, regelmäßig von außen mit brennbarem Material, Anreizen, versorgt werden.

Die dementsprechende Strategie verdichtet Sprenger in sechs Worte: "Tue dies, dann bekommst du das!" Zusatz: und ich, als Vorgesetzter, was ich will beziehungsweise wollen muss. Motivation heißt "Ich will"; Motivierung heißt "Ich soll". Und an der Wirkung dieses von außen bewirkten Sollens hat Sprenger nachvollziehbare Zweifel.

Warum also wird mit solcher Beharrlichkeit auf den vermeintlichen Leistungszauberer Motivation gesetzt? Wurzelt diese Überlebensfähigkeit der Anforderung an Führungskräfte womöglich in einem Glauben, der ganz generell in unserer Gesellschaft dazu "motiviert", wider besseres Wissen zu handeln? Also in der irrigen Vorstellung, alles sei machbar? Steckt also Vermessenheit dahinter? So manches spricht für diese Vermutung.

Nudging

Und stärkt nicht vielleicht noch etwas Menschliches dem Glauben an die Macht der Motivation den Rücken? Die Lust an der Ausübung von Macht über andere? Immerhin, wer die Verfügung über Anreiz- und Boni-Systeme oder gewisse sonstige Vergünstigungen hat, ist damit faktisch in der Lage, Macht auszuüben. "Es ist an der Zeit, den Begriff Motivation wegzuwerfen. Er hat zu nichts anderem beigetragen als zur Korrumpierung des Menschen und zur Erzeugung von Ausbeutungsintelligenz", schreibt Sprenger.

Zu harsch gedacht? Nun, seit geraumer Zeit macht ein Ableger des Motivationsdenkens von sich reden: das Nudging. Ein "nudge" ist ein kleiner Stups, der kluge Entscheidungen anstoßen soll. Klug für wen? Nun ja, wer sich des Nudgings bedient, verfolgt eine klare Zielvorstellung: Er oder sie stupst andere an, dieser Zielvorstellung Folge zu leisten. Ein Schelm, wer sich Böses dabei denkt? Mitnichten, ein kluger Kopf! Darf Nudging doch getrost als die moderne Version des altbekannten Worts Manipulation angesehen werden. Und die feiert derzeit – wo das vom verordneten Mainstream-Denken Abweichende in die Schmuddelecke gestellt wird – reichlich Triumphe. Schamlos wird im politisch-gesellschaftlichen Raum an allen Ecken und Enden genudged, um eine erwünschte Lenkungswirkung herbeizuführen.

Sprenger entlarvt in der Sonderausgabe Nudging als Methode, Menschen durch psychologische Tricks und Kniffe dazu zu bringen, das für richtig zu halten, was andere als richtig ansehen. "Motto: Tue, was ich will, sonst schadest du dir selbst." Irgendwie will angesichts dessen der Gedanke "gelenkte Demokratie" einfach nicht aus dem Kopf. (Hartmut Volk, 18.9.2021)