Die offizielle Insolvenz des zweitgrößten Immobilienkonzern Chinas, Evergrande, rückt immer näher. Vor dem Wochenende wurde bekannt, dass die chinesischen Behörden bereits Banken vor Zahlungsausfällen gewarnt hatten. Der Aktienkurs fiel den fünften Tag in Folge und notiert so tief wie seit zehn Jahren nicht mehr.

In Summe geht es gerade Schlag auf Schlag: Anleihen des Immobilienentwicklers wurden nach massiven Kursrutschen vom Handel ausgesetzt. Auch die Aktien von anderen Immobilienunternehmen fallen aufgrund der Unsicherheit im Markt. Vor dem Unternehmenssitz in Shenzhen haben sich wütende Anleger versammelt. Ein Firmenvertreter von Evergrande soll den verärgerten Geschäftspartnern statt Geld sogar Wohnungen, Parkplätze oder Lagerräume angeboten haben.

Geringe Ansteckungsgefahr

Außerhalb Chinas rätselt man nun, wie groß die von der Evergrande-Pleite ausgehende Ansteckungsgefahr sein wird. Immer wieder ist von "Chinas Lehman-Moment" zu hören. Die Zahlungsunfähigkeit der amerikanischen Bank Lehman Brothers löste 2008 die globale Finanzkrise aus.

Wohnungen gelten in China als Spekulationsobjekte.
Foto: AFP/Noel Celis

Allerdings sprechen ein paar Punkte gegen eine Krise solchen Ausmaßes. Die Schuldenlast von Evergrande ist zwar gewaltig. Lehman war mit 600 Milliarden US-Dollar allerdings doppelt so hoch verschuldet – und der Wert ist nicht einmal inflationsbereinigt. Relativ zum heutigen Geldwert wäre diese Summe noch höher. Hinzu kommt, dass Lehman sogenannte Toxic Assets hielt, mehrmals gebündelte und neu verpackte Schuldverschreibungen, deren wahren Wert am Ende niemand mehr kannte.

Und schließlich ist das chinesische Finanzsystem noch immer verhältnismäßig isoliert vom Rest der Welt. Zwar weiß man noch nicht, wie viele Gläubiger von Evergrande nicht aus China kommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach aber dürfte dieser Teil eher gering sein – und damit auch die Schockwirkung auf das internationale Finanzsystem.

Die chinesische Wirtschaft aber erwartet einige Turbulenzen. Die Zahlungsausfälle von Evergrande haben längst auf andere Unternehmen übergegriffen. Bitter könnte es auch für einige Privatinvestoren und Hauskäufer werden. Vorauskasse ist in diesem Geschäft üblich. Von ihnen könnten einige auf hohen Verlusten sitzenbleiben, sofern die Regierung nicht einspringt.

Genau das ist derzeit die zweite große Frage: Was plant die Kommunistische Partei, um den Fall von Evergrande aufzuhalten beziehungsweise den Flächenbrand zu begrenzen? Auch hier hat das Regime mehr Möglichkeiten als die amerikanische Regierung 2008: Zum einen sitzt Peking auf einem Berg von Devisen, den das Land in den vergangenen Jahrzehnten angehäuft hat.

Der Bauboom hat sich eingetrübt. Damit sinkt auch das Preisniveau. Das bringt Evergrande in arge Bedrängnis.
Foto: AFP/China Out

Auch muss sich Peking weniger als freie Marktwirtschaften um das Phänomen eines "Moral Hazard" scheren. Der besagt, dass Unternehmen auf staatliche Hilfe hoffen können, wenn sie aufgrund von Misswirtschaft in eine Schieflage geraten. Durch diese implizite Garantie wiederum entstehen Anreize für Misswirtschaft. Da die Partei ohnehin große Teile der Wirtschaft kontrolliert, ist das hinfällig.

Insolvenz oder Rettung

Die derzeit wahrscheinlichste Variante ist deshalb: Die Kader in Peking wollen die Insolvenz. Sorgen bereiten der Partei seit Jahren die stetig steigenden Hauspreise. Das schafft Unmut in der wachsenden chinesischen Mittelschicht und gefährdet das Wohlstandsversprechen der Partei gegenüber dem Volk.

Die meisten Versuche, den Preisanstieg zu bremsen, haben bisher nicht gefruchtet. Zuletzt wurde die Vergabe von Immobilienkrediten verschärft. Da Chinesen aber kaum eine andere Möglichkeit haben, ihr Geld woanders anzulegen, bleiben Immobilien vor allem an den Metropolen der Ostküste heißbegehrt.

Eine Pleite von Evergrande gewährleistet zweierlei: Sie sendet ein Signal an alle Unternehmen, sich mit Schulden zukünftig zurückzuhalten. Vor allem aber hat die Pleite einen deflationären Effekt auf den Gesamtmarkt. Dies könnte nach einer – kalkuliert – chaotischen Periode endlich den erhofften Effekt auf die Immobilienpreise haben.

Klingt gar nicht so schlecht. Sofern sich die Spezialisten für Marktwirtschaft in der Kommunistischen Partei nicht verkalkuliert haben. (Philipp Mattheis aus Peking, 17.9.2021)