Christian Lindner will die Wirtschaft nach der Pandemie durch schrittweise Steuersenkungen ankurbeln.

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"Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren" – mit diesem Satz brach Christian Lindner im Herbst 2017 die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition mit der Union und den Grünen ab. Viele seiner Anhänger haben ihm das verübelt. Jetzt steht Linder wieder bereit – aber erneut nicht zu jedem Preis.

STANDARD: Gilt Ihr Satz von 2017 noch?

Lindner: Ja. Wir haben schon einmal gezeigt, dass wir willens und fähig sind, auch harte Entscheidungen zu treffen.

STANDARD: Damals stiegen Sie aus, weil die FDP zu wenig in der Regierung hätte umsetzen können. Warum sollte das jetzt anders sein?

Lindner: Von 2013 bis 2017 waren wir Freie Demokraten nicht im Bundestag vertreten. In dieser Zeit haben CDU und Grüne auf den Fluren des Bundestags besprochen, wie man ins Geschäft kommen könnte. Sie haben nicht damit gerechnet, dass sie die FDP brauchen würden, da war für uns eigentlich kein Platz.

STANDARD: Und in den vergangenen vier Jahren war die FDP beim Flurgespräch dabei?

Lindner: Die Ausgangslage ist nicht wie damals eine schwarz-grüne Übereinkunft unter Frau Merkel, sondern wir befinden uns in einer völlig neuen Situation. Vielen ist nicht verborgen geblieben, dass die FDP als eigenständige politische Kraft nicht nur Karrieren im Blick hat, sondern für das Land auch Gutes bewirken will und ihre Werte mit der Freiheit im Zentrum umsetzen möchte.

STANDARD: Sie fühlen sich auf Augenhöhe?

Lindner: Es gibt sicherlich einen größeren Respekt dafür, dass die FDP, wenn sie in eine Regierung eintritt, eigene inhaltliche Anliegen umsetzen möchte. Wir möchten, dass die Sensibilität für Freiheit und Bürgerrechte über die Pandemie hinaus wieder größer wird.

STANDARD: Zu Beginn der Pandemie hatte es die FDP mit ihrem Freiheitscredo nicht leicht. Viele nahmen die Restriktionen in Kauf. Profitieren Sie jetzt vom Wunsch nach Normalität?

Lindner: Während der Pandemie haben sich die Menschen hinter der Regierung versammelt; ein Verhalten, das wir in vielen Demokratien in Krisensituationen sehen. Im Verlauf der Pandemie dann hat sich aber gezeigt, dass wir sensibler auf Freiheitseinschränkungen reagieren als andere Parteien. Das zeichnete die FDP schon immer aus – es ist vielen Menschen nun aber bewusster geworden. Jetzt sagen viele, wir müssen aus der Wirtschaftskrise rauskommen, da kann die FDP Beiträge leisten. Wir wollen den Abbau von bürokratischen Fesseln und steuerlicher Überlastung. Und wir wollen Klimaschutz, der eine Frage der Technologie ist und nicht nur des Verzichts.

STANDARD: Wie wollen Sie Ihre Steuerentlastungen finanzieren?

Lindner: Es ist eine interessante Pointe von Wahlkämpfen, dass sich immer jene rechtfertigen müssen, die ihr Geld bei den Bürgerinnen und Bürgern belassen möchten, nicht aber jene, die Milliarden einnehmen wollen und mit vollen Händen verteilen wollen.

STANDARD: Die Bekämpfung der Pandemie hat den Staat viel Geld gekostet.

Lindner: Ja, aber ich habe noch nie gehört, dass man die Grünen befragt, wie sie ihr Wahlprogramm mit höheren Hartz-IV-Sätzen (Sozialhilfe, Anm.) und bedingungslosem Grundeinkommen finanzieren wollen. Unser steuerpolitisches Programm ist nicht darauf angelegt, vollständig, in einem einzelnen Haushaltsjahr zu entlasten. Wir wollen das Schritt für Schritt umsetzen, mit dem Ziel einer wirtschaftlichen Belebung des Landes. Das beklagenswert geringe Wachstum muss verstärkt werden, damit neue Jobs entstehen. Wenn die Wirtschaft nachhaltig wächst, dann sorgt das auch für solide Staatsfinanzen.

STANDARD: Armin Laschet, Olaf Scholz und Annalena Baerbock können in drei TV-Triellen für ihre Politik werben. Sitzen Sie dort als unsichtbarer Vierter, weil Sie Kanzlermacher sind?

Lindner: Wir überschätzen uns nicht, wir haben ja auch keinen Anspruch auf einen Kanzler angemeldet. Kanzlermacher sind wir gewiss nicht allein, aber möglicherweise werden wir Teil einer Koalition. Je stärker wir werden und je näher wir an die Grünen heranrücken, desto stärker könnten wir Einfluss ausüben, über welches Format nach der Wahl gesprochen wird und über welche Inhalte.

STANDARD: Wer wird Sie am Montag nach der Wahl anrufen? Olaf Scholz oder Armin Laschet?

Lindner: Ich glaube, dass es möglicherweise einen knapperen Ausgang geben wird, als viele vermuten. Unterschiedliche Modelle wären in der Folge möglich. Dann kommt es tatsächlich darauf an, die solideren Möglichkeiten und die meisten Überschneidungen auszuloten.

STANDARD: Es dürfte bei der Kanzlerwahl darauf ankommen, wem Sie Ihre Gunst schenken.

Lindner: Wir sind eine eigenständige Partei. Alle wissen, dass wir bereit sind zu Kompromissen und zur Übernahme von Verantwortung. Wir regieren in den Formaten Schwarz-Gelb, Jamaika-, Ampel- und Deutschland-Koalition (Union, SPD, FDP, Anm.). Es muss uns möglich sein, inhaltliche Akzente zu setzen. Und es muss schon einen Unterschied machen, ob die FDP einer Regierung angehört oder nicht.

STANDARD: Es müsste nicht derjenige Kanzler werden, der die stärkste Fraktion hinter sich hat?

Lindner: Das spielt in der Verfassung keine Rolle. Außerdem wird die stärkste Partei von mehr als 70 Prozent nicht gewählt worden sein. Es kommt nicht darauf an, wer die Nasenspitze vorn hat. Entscheidend ist, wer eine Koalition hat.

STANDARD: In Rheinland-Pfalz regiert eine Ampel aus SPD, FDP und Grünen. Warum fehlt Ihnen die Fantasie für eine Ampel im Bund?

Lindner: Ich vergleiche ganz nüchtern Wahlprogramme. Wenn man die Texte neben einanderlegt, dann gibt es eine größere Nähe zu CDU und CSU, auch wenn hier manches relativiert wurde. So ist der Wunsch, von einem Jahrzehnt der Belastungen in eines der Entlastungen zu kommen, inzwischen bei der Union heruntergedimmt.

STANDARD: Das klingt aber nach Abgrenzung vom Lieblingspartner.

Lindner: Wir sind eine eigenständige Partei. Bei Sozialdemokraten und Grünen haben wir zusätzlich leider sehr viel Subventionierung, mehr Staat und Bevormundung. Beide Parteien stehen damit in einer Verwandtschaft zur politischen Linken.

STANDARD: Würden Sie doch eine Ampel machen, wenn Sie damit ein Bündnis aus SPD, Grünen und Linken verhindern können?

Lindner: Reines Verhindern – das wäre ein zu bescheidener Anspruch.

STANDARD: Dieses Opfer wäre also zu groß?

Lindner: Wenn SPD und Grüne zudem die Linkspartei in eine Regierung aufnehmen wollten, müssten sie das doch erst einmal unserem Land erklären. Gerade die Grünen haben seit 2017 viele bürgerliche Wähler gewonnen, die den Klimaschutz dort gut auf gehoben sehen. Die wären aber überrascht, wenn die Grünen sich entpuppten als Brücke zu einer Partei, die Sozialismus im Programm hat, enteignen will und die außenpolitische Verlässlichkeit Deutschlands nicht garantiert.

STANDARD: Europapolitisch würden Sie mit der SPD aber auch manchen Strauß ausfechten.

Lindner: Olaf Scholz hat sogar von einem "Hamilton-Moment" gesprochen, also von einer jetzt beginnenden Vergemeinschaftung der Verschuldung. Wir halten das für keine gute Perspektive. Die Hilfen nach Corona sollten eine einmalige Intervention sein, aber nicht zur Dauereinrichtung werden.

STANDARD: Apropos Hilfen. Sebastian Kurz lehnt eine Aufnahme von Afghanen ab. Ist das auch Ihre Vorstellung von Europa?

Lindner: Wir haben Kanzlerin Angela Merkel im Bundestag dazu aufgerufen, dringend einen Sondergipfel einzuberufen, damit wir koordiniert und mit einer Stimme in Europa sprechen. Schon davor solche Aussagen zu tätigen, halte ich nicht für ratsam. Die EU sollte zusammenbleiben. (Birgit Baumann, 19.9.2021)