Der Weg zur Klimaneutralität in Deutschland ist weit.

Foto: Gabriel Ferneini

Unter den Linden herrscht reges Treiben. Die Rede ist nicht vom Prachtboulevard im Machtzentrum Berlin, sondern von zwei Bäumen, die in einem Biergarten im nordhessichen Wesertal Schatten spenden. Alle Tische unter den Laubbäumen sind besetzt. Das Gros der Gäste ist Ü50 und mit dem (E-)Bike den Fluss entlang hergeradelt – angetrieben von der Lust auf Bier, Mettwurstbrötchen und deutschen Wald.

Anders als im dichtbesiedelten Süden Hessens, zu dem auch die Finanzmetropole Frankfurt am Main gehört, gibt es im Nordosten, der bis zur Wiedervereinigung 1990 am Rand der Republik lag, keine großen Fabriken und Autobahnstraßen. Stattdessen blickt man auf alte Fachwerkhäuser –und auf den Reinhardswald. Er gilt als eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete Deutschlands; zur Legendenbildung gehört auch, dass die Gebrüder Grimm, die den historisch geladenen Mythos über die unberührte Natur Deutschlands massiv prägten, hier die Volksmärchen rund um Dornröschen und Rapunzel niederschrieben.

"Rettet den Reinhardswald"

Einzig ein Transparent am Flussufer durchbricht das ländliche Idyll: "Rettet den Reinhardswald", steht da. Auf ein Bild des Waldes wurden mit Photoshop riesige Windräder eingefügt. Die Bildmontage macht deutlich, dass der Sehnsuchtsort Märchenland – wie auch der Rest des Landes – in einer großen Transformation steckt: der konfliktträchtigen Energiewende.

"Den Grundstein dafür haben Bund und Land bereits unmittelbar nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 gelegt", sagt Danny Sutor. So lange – genauer gesagt seit 2010 – fungiert der parteilose Politiker schon als Bürgermeister der Kleinstadt Grebenstein, die ebenfalls am Reinhardswald liegt. Doch das größte Vorhaben seiner Amtszeit hat er eben noch nicht zu Ende gebracht: die Errichtung des Windparks Reinhardswald. Dafür braucht man im Deutschland der ambitionierten Klimaziele nicht nur Aussichten auf eine Wiederwahl, sondern auch einen langen Atem.

Danny Sutor will die energiepolitischen Beschlüsse des Landes Hessen selbst umsetzen.
Foto: Gabriel Ferneini

Sutor breitet eine Karte der geplanten Windräder im Wald auf seinem Schreibtisch aus. Es sind zunächst 18 von 20 Stück auf einem Höhenkamm, die auf eine Genehmigung warten. Dabei handelt es sich um den höchsten Höhenzug in der Region. Die Fläche im Staatsforst wurde landesseits vor bald zehn Jahren für die Windernte ausgewiesen, sagt er und greift sich angesichts der Jahre, die verstrichen sind, ungläubig an die Stirn. Um ortsfremden Investoren den Wind aus den Segeln zu nehmen, gründete Sutor damals mit acht Nachbargemeinden und einem Privatinvestor eine sogenannte Bürgerenergiegenossenschaft. So sollte sichergestellt werden, dass auch Einnahmen in die Gemeindekassen fließen – und der Reinhardswald ein Musterbeispiel für Bürgerbeteiligung und lokale Wertschöpfung wird. Doch es kam anders.

Flaute beim Ausbau

Heute steht der ungebaute Windpark stellvertretend für den ausgebremsten Ausbau der Windkraft in Deutschland. Landesweit gibt es zwar bereits 30.000 Windanlagen an Land. Das reicht aber nicht, um bis 2030 das Klimaziel von minus 65 Prozent Treibhausgasen und die Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen – beides Ziele, die gesetzlich verankert wurden, weil Klimapolitik inzwischen Verfassungsrang hat. Zudem muss laut dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz der scheidenden Bundesregierung der Stromverbrauch bis 2030 zu 65 Prozent von erneuerbaren Energien abgedeckt werden – denn die Energiewirtschaft emittiert die meisten Treibhausgase in Deutschland. Die Gesamtleistung der Windkraft an Land soll deshalb von aktuell 62 Gigawatt auf mindestens 71 Gigawatt aufgestockt werden. Doch Experten zufolge ist das nicht genug. Benötigt würden angesichts des steigenden Energiebedarfs rund 80 Gigawatt Leistung bei der Onshore-Windkraft, also noch einmal ein Drittel der aktuellen Leistung.

Deutschlandweit lag der Windkraftausbau im Vorjahr aber lediglich bei rund 1,4 Gigawatt. Auch in Hessen, wo in dieser Dekade rund 1000 Windräder entstehen sollen, wurden im Vorjahr nur 18 Anlagen genehmigt.

Fehlende Aufklärung

Bürgermeister Sutor sieht hier eine Mitschuld des Bundes: Die unterbesetzten Genehmigungsbehörden, die die extrem aufwendigen und umfangreichen Anträge prüfen, seien aufgrund unklarer Vorgaben verunsichert – wie auch die Bevölkerung. "Man hat zwar die Energiewende beschlossen, aber verabsäumt, den Bürgern zu erläutern, was diese bedeutet: ein sichtbares Energieerzeugungssystem, das mit Flächenfraß und einer Veränderung des Landschaftsbildes für den Großteil der Deutschen einhergeht", sagt Bürgermeister Sutor. Dies sei den Lokalpolitikern überlassen worden.

"Jetzt handeln" und "Das Märchenland ist stinksauer", steht auf Transparenten, die an einem Fachwerkhaus im Reinhardswald angebracht wurden.
Foto: Gabriel Ferneini

Im Reinhardswald haben die Bürgerinitiativen den Diskurs fest im Griff. Davon zeugen nicht nur die Transparente. Wer sich auf Google über den Windpark informieren möchte, landet rasch auf den Websites von Kritikern, die nach eigenen Angaben ein "Netzwerk des Widerstandes" gespannt haben. Es sind professionell gestaltete Blogs, auf denen Interviews mit Experten, Visualisierungen, Artikel und Videos veröffentlicht werden. Unterstützung und Zuspruch bekommen sie von Waldschützern (zum Beispiel von der NGO Rettet den Regenwald), aber auch Energiewendegegnern im ganzen Land. Etwa dem gut vernetzen Dachverband von Anti-Windkraft-Initiativen, Vernunftkraft, dessen Interessen sich mit jenen der fossilen Industrie decken: Abschaffung des Erneuerbare-Energie-Gesetzes und der Subventionierung für Windkraft.

Für den Wald

Dabei ist man im Reinhardswald gar nicht gegen Windkraft per se. Die örtlichen Bürgerinitiativen sprechen sich lediglich gegen Windkraft im Wald aus. Ihre Blogs zeugen von Misstrauen gegenüber den Behörden. Es wird gemutmaßt, dass das Land vorrangig an Pachteinnahmen im Wald interessiert ist; und befürchtet, dass alle von der Landesregierung ausgewiesenen Flächen im Wald einmal mit Windrädern bebaut würden – auch wenn das keineswegs fix ist.

"Das erste Windrad ist meine rote Linie", sagt Karsten Leineke von "Windpark Reinhardswald – dagegen" – ein Zwei-Personen-Projekt, das er mit seiner Partnerin Sonja Beneke noch am selben Abend ins Leben rief, an dem sie vor drei Jahren von den Plänen erfuhren. Leineke arbeitet in der Photovoltaikindustrie, fährt Elektroauto und liebt Naturfotografie und den Reinhardswald. Im Gespräch zeigt sich, dass ihm der Arten- und der Waldschutz an dieser Stelle näher sind als der Klimaschutz. Er empfindet es als ungerecht, dass der Reinhardswald in Mitleidenschaft gezogen werden muss, um Strom für die Konsumgesellschaft zu liefern. Lieber wäre ihm eine Gesellschaft, die ihren Ressourcenverbrauch reduziert.

Sonja Beneke und Karsten Leineke sind gegen den Windpark.
Foto: Gabriel Ferneini

Die Initiative des Aktivistenpaares ist nur eine von vielen. Auch das Aktionsbündnis Märchenwald ist dagegen, dass für Windräder Wald zerstört wird, und dass der Mensch mit diesen "Kraftwerken" in wertvolle Lebensräume der Natur eindringt, sagt Annette Müller-Zitzke, und zeigt dabei auf einen Rotmilan, der über dem Feld kreist.

Die Ergotherapeutin, die schon seit Jahren Gegenwind gegen das Windparkprojekt leistet, ist sichtlich betroffen von dem Vorhaben. Und davon, dass sich die Deutschen nicht genug um ihren Wald scheren. Ähnlich geht es auch ihren Mitstreitern, dem Unternehmer Oliver Penner und dem Rentner Josef-Hermann "Jupp" Rapp, ein in der Region bekannter Förster, der deshalb "Stimme des Reinhardswaldes" genannt wird.

Für die drei ist es schwer zu glauben, dass es keine Alternativen gibt: dass man die Räder nicht woanders hinstellen kann; dass man die Energiewende nicht anders gestalten kann; und dass man das Problem des Klimawandels nicht anders lösen kann. Zudem würden die nötige Speichertechnologie fehlen und weiterhin fossile Energieträger im Energiemix im Einsatz bleiben – wenngleich in geringeren Maßen. Solange solle der Wald jedenfalls nicht geopfert werden. Wie auch Leineke und Beneke, fühlen sich Penner und Rapp von der Politik im Land und im Bund alleingelassen. Allen voran den Grünen, die in Hessen mit der schwarzen CDU regieren. Sie distanzieren sich aber auch allesamt von der rechten AfD, obwohl sich die Partei bereits im Vorjahr klar auf die Seite der Windparkgegner stellte. Nun gehen die Rechten in der Region mit dem Spruch "Alle anderen sind grün" auf Stimmenfang.

Auch Josef-Hermann Rapp, die sogenannte "Stimme des Reinhardswaldes", und Annette Müller-Zitzke fürchten um das Wohl des Waldes und der Region.
Foto: Gabriel Ferneini

Es gibt aber auch Naturschützer, die sich auf die Seite des Windparks stellen – etwa der Nabu, Deutschlands größte Umweltorganisation. Hessen hatte wegen des Klimawandels in den Vorjahren Baumschäden auf einer Waldfläche in der doppelten Größe des Reinhardswaldes, sagt Nabu-Hessen-Geschäftsführer Mark Harthun. Es gelte ein Gleichgewicht zwischen Natur- und Klimaschutz zu schaffen. Ohne Windräder im Wald sei die Energiewende im waldreichsten Bundesland Deutschlands aber nicht zu schaffen, so Harthun. Dort bläst nun mal der meiste Wind, meint dazu auch der Landesverband Hessen des Windenergieverbandes BWE. Wer Windräder hier im Flachen bauen will, müsste um ein Vielfaches mehr davon aufstellen. Und das sei allein aufgrund der Abstandsregeln – 1000 Meter Abstand zu Siedlungsgebieten – nicht realistisch.

Harthun begrüßt jedenfalls, dass für den Windpark zur Eingriffsminimierung bereits geschädigte Waldflächen ausgewählt wurden. Im Gegenzug für den ökologischen Eingriff durch Windkraft im Wald habe der Nabu auch mit dem Land Hessen konsequente Artenschutzprogramme vereinbart – etwa für kollisionsgefährdete Vögel, um deren Populationen stabil zu halten. Und Harthun erinnert auch daran, dass der Landesforst für einen 1300 Hektar großen Teil des Waldes die Holzwirtschaft untersagt hat. Dort wird der Wald nun sich selbst überlassen. Umso bedenklicher sei, wenn Gegner die Wahrheit verzerren und der Eindruck erweckt wird, im Reinhardswald werde ein unberührter Urwald gefällt.

Der Reinhardswald hat in den Vorjahren viele Baumschäden erlitten: Sturm, Trockenheit und Borkenkäfer.
Foto: Gabriel Ferneini

Die Bürgerinitiativen können jedenfalls bereits auf Erfolge zurückblicken: Fünf der neun Anliegergemeinden sind bereits aus der Energiegenossenschaft ausgeschieden. Für Bürgermeister Sutor ein Fehler, denn er rechnet fix damit, dass der Windpark noch heuer genehmigt wird. Doch auch damit wird das Gezerre nicht vorbei sein: Die Gegner haben bereits Klagen angekündigt. (Flora Mory, 19.9.2021)