Frank Castorfs Inszenierung von "Zdeněk Adamec" im Burgtheater.

Foto: Matthias Horn

Dort, wo das Feuer der Empörung besonders hell auflodert, fällt naturgemäß viel Rauch an: Frank Castorfs Inszenierung von "Zdeněk Adamec", Peter Handkes Ballade über einen rätselhaften Außenseiter, huldigt unverkennbar Osteuropas Tabakindustrie. Auf der Burgtheaterbühne Aleksandar Denićs dreht sich ein typisch Castorf’sches Barackendorf im Kreis: komplett nur mit Lattenzäunen, mit Würfeltischtuch, Billigbier und einem Landschaftsgarten aus Benzinfässern.

Über dem irdischen Jammertal aber ragt die Zigarettenwerbung empor. Die Leuchtreklame von "DRINA Exclusive" verheißt garantiert lungenschädigenden Rauchgenuss. Bei diesem Freizeitpark handelt sich um keinen maßstabsgetreuen Nachbau einer bestimmten Ortschaft. Nachempfunden wurde das tschechische Humpolec, und zwar als Mentalitätskäfig: aufgestellt in einer Zeitblase, die lange nach Untergang des real existiert habenden Sozialismus noch immer schwillt.

Personifiziertes Rätsel.

In ihr strampeln drei Schauspielerinnen und vier Schauspieler vier Stunden lang um ihr Leben. Dieser nordböhmischen Gemeinde, rund 100 Kilometer südöstlich von Prag gelegen, entstammte der Titelheld, ein personifiziertes Rätsel. Ein Fragezeichen mit einem dicken, schwarzen Kreuz dahinter.

Der 18-jährige Schüler Adamec, ein bis dahin unauffälliger Steinmetzsohn, reiste Anfang März aus der Provinz in das zitterkalte Prag. Dort übergoss er sich am Wenzelsplatz mit Benzin und zündete sich an. Seinen Abschiedsbrief, im Internet überliefert, richtete der Lebensmüde sicherheitshalber gleich an die "lieben Bewohner der ganzen Welt". Er enthielt eine zornige Bestandsaufnahme alles dessen, was schief läuft in den schmerzberuhigten Wohlstandszonen der gebrechlich, weil neoliberal eingerichteten Welt. Prompt erklärte Tschechiens Präsident Václav Klaus den Selbstverbrenner Adamec für "verstört".

In Handkes gewohnt träumerischer Theaterballade betritt man wie gewohnt "sonores" Land: In dieser wider alle Aktualität gerichteten Befragung sitzen teilnahmslose Junge wie Alte an einem "öffentlichen Ort" und raunen einander ihre Mutmaßungen über Zdeněk zu. Das ergab in der jüngeren Vergangenheit spröde Bebilderungen durch Friederike Heller und Jossi Wieler. Die gute Absicht einte sie; darüber hinaus wohl die Ratlosigkeit.

Bedürfnis nach Ekstase

Nur ist gerade das Raunen Castorfs Sache ganz und gar nicht. Über die unvermeidliche Filmleinwand flimmern Humpolecer Autocross-Meisterschaften. Zu ebener Erde hampeln und strampeln die Dörfler im Kreis: Von der Weltwirtschaft Aufgegebene, die ihr Mütchen mit Dosenbier kühlen und – wie ein Plakat verheißt – ihr legitimes Bedürfnis nach Ekstase mit David-Guetta-Musik befriedigen müssen.

Castorf zeigt: ein schmählich abgehängtes, dabei bumsfideles "Flyover Country". Einen malerischen Sperrmüllzoo, in dem jeder und jede einen potenziellen Zdeněk Adamec in sich trägt. In der Ablehnung der Konsumgesellschaft, in ihrem Glauben an das Gute, Schützenswerte im Menschen, begegnen einander Handke und Castorf. Der eine ist bockiger Nobelpreisträger, der andere störrischer Expressionist. Das ergibt – im Zeichen des säkularen Märtyrers Adamec – zusammen ein Fest der Widersetzlichkeit.

So nimmt es auch nicht wunder, dass der schwarz gelockte Mehmet Ateşçi als eine Art Schmerzensmann ans Holzdach geheftet wird. Auch Handke hat, als unbelehrbarer Verfechter von Minderheitsmeinungen, gebüßt für die Sünden der NATO und der von ihm verhassten "Berichterstatter".

Schnaps aus Kalaschnikow-Flaschen

Reihum schlüpfen die Mitglieder eines Fähnleins zu allem entschlossener Schauspieler in die Rolle Zdeněk Adamecs. Dabei sind es gerade auch die Frauen, die Schnaps aus Kalaschnikow-Flaschen saufen (Marie-Luise Stockinger) oder, zu fortgeschrittener Stunde, auf dem nackten Stroh der Kolchose einen neuen Heiland alias Zdeněk gebären (Mavie Hörbiger). Die Mutmaßungen über die formativen Jahre eines rätselhaften Empörers enthalten genügend Beispiele für die raunende Handke-Poesie: naturfromme Betrachtungen über das Pflücken von Blaubeeren, Bekundungen über das In-der-Welt-Sein. Mit der Wiedergabe von "Inhalt" kommt man diesem Stück ohnehin nicht bei.

Castorf denunziert diese zögerlich tastende Erzählhaltung nicht, reichert sie aber mit Zitaten aus Schillers "ästhetischen Briefen" an. Franz Pätzold deklamiert diese deutsche idealistische Musterprosa mit dem Ingrimm eines notorischen Aufrührers. Wie alle diese herrlichen Schauspieler tausende Male die Masken wechseln, ihre Haltungen und ihre Tics.

Weltekel auf dem Bungalow-Klo

Man ist versucht zu sagen: Sie brennen inwendig. Sie verspritzen Bierschaum, reden Unsinn, kochen Gemüsesuppe oder versitzen ihren Weltekel auf dem Bungalow-Klo (Florian Teichtmeister). Die tragbare Castorf-Kamera folgt ihnen bis in die hintersten Winkel ihrer Oberstübchen. Dazu kommen Bilder aus einem ehrwürdigen tschechischen Schwarzweiß-Spielfilm von 1966.

Zum Schluss wird klar, dass einer Person wie dem realen Zdeněk Adamec auf Erden, unter den Bedingungen des entwickelten Kapitalismus, wohl nicht zu helfen war. Regen fällt von oben auf die Überlebenden. "Es ist noch Glanz in meinem Bernstein." – "Licht an in deinen Achselhöhlen!" Es ist eben doch die Poesie, die über eine ungemütliche Welt den Sieg der Dauer davonträgt. Donnernder Applaus für Castorfs Triumph mit Handke. (Ronald Pohl, 19.9.2021)