Christoph Rothenbuchner wird gegen seinen Willen ein Kleid angezogen. Das Ensemble ist an diesem Abend ständig in Aktion.

Foto: Peter Griesser

Eine Kuschelcouch, funkige Sexmusik, ein Schreibtisch mit Dildos neben dem Computer. Wir schreiben das Jahr 2005, und die breite Masse könnte "queer" nicht einmal buchstabieren, doch in dieser Wohnung wird schon mit weit komplexeren Begriffen wie "Disidentifizierung" oder "pharmapornografisches Regime" hantiert. Jeden Abend reibt sich der Bewohner 50 mg Testosteron aus einem silbernen Päckchen in die linke Schulter. Oder eigentlich die Bewohnerin.

Im Wiener Werk X hat man die Wohnung des spanischen Philosophen und Queer-Theoretikers Paul B. Preciado aus den frühen 2000ern aufgebaut. Jene Zeit beschreibt er in seinem autobiografischen Buch Testo Junkie. Damals begann er als lesbische Frau, mit dem Männlichkeitshormon zu experimentieren. Das bringt ihn nicht nur in einen rechtlichen und medizinischen Graubereich, sondern auch ideologisch in die Bredouille. Was bedeutet die Testosteron-Gier für seinen bisherigen feministischen Kampf? Aber der Forschergeist ist stärker.

Das gilt auch für die von Christine Eder erarbeitete Uraufführung. Die Regisseurin hat sich Szenen und Thesen des Bandes geschnappt und zu packenden, Fragen stellenden eineinhalb Stunden komprimiert. Grundidee Preciados ist die Überwindung des Systems starrer Geschlechtskategorien und die Modulation von Geschlecht als Befreiung: "Ich verlange ‚jedem seine Dosis‘, für jeden Kontext den genauen Bedarf."

Hypergeil und hyperaktiv

Testo, wie Preciado das Hormon nennt, wird zur Droge, die ihn hyperaktiv und hypergeil macht. Das Internet ist der Community-Space der weltweiten transsexuellen Körper, wo er etwa Videos teilt, wie er sich Dildos in beide unteren Körperöffnungen einführt. Seine Gedanken reichen aber weiter: Ist erst die Konstruktion von Geschlecht überwunden, wie könnten sich dann noch Nationen, Grenzen, Macht halten? Preciado betrachtet sich als "Forscher und Laborratte" in einem.

Nicht nur intellektuell geht es rasant zu. Der drastischen Wortwahl (Schwanz, ficken ...) steht eine verspielte Direktheit des zu Sehenden nicht nach. Birgit Stöger hat sich ein Bärtchen aufgemalt, Christoph Rothenbuchner wird gegen seinen Willen ein Kleid angezogen, und Thomas Frank begeistert als Frau bei einem Drag-King-Workshop. Bettina Schwarz ist mit Mütze eine Butch, also eine Lesbe mit männlichem Aussehen. Mittels blonder Perücke schlüpfen alle abwechselnd auch in die Rolle von Preciados damaliger Geliebter. Man hört vom leidenschaftlichen, aber nicht unkomplizierten Sex der beiden. Neben Biopolitik und Körpernormen geht es auch um Erregung und Begehren.

Monika Rovan sorgt für retro-schicke Kostüme, Philipp Haupt bespielt Videos ein, die im Zeitraffer biomedizinische Fortschritte oder die Pornoindustrie im 20. Jahrhundert bis hin zu Twitter umreißen. All das ist ein genialer Rahmen für die so direkten wie poetischen Überlegungen Preciados. (Michael Wurmitzer, 20.9.2021)