"True Colors" thematisiert Empathie und Emotionen auf eine bisher selten in großen Spieleproduktionen genutzte Weise.

Foto: Square Enix

Wenn wir Videospiele spielen, dann hat das oft einen kompetitiven Charakter. Shooter, Sportspiele oder Autorennen – sie alle wollen nicht, dass wir uns in unsere Gegner hineinfühlen, sondern sprechen unseren Kampfgeist an. Immer mehr Videospiele erzählen jedoch emotionale Geschichten, dessen Protagonisten wir lieben oder hassen lernen. Eines davon ist das neue Spiel Life is Strange: True Colors welches völlig untypisch Empathie als Superkraft inszeniert.

Empathie als Superpower

In True Colors übernehmen wir die Rolle der jungen Alex Chen. Sie ist eine unsichere, aber auch sensible und empathische Figur, die einem schnell ans Herz wächst. Nach einem tragischen Unfall muss Alex mithilfe ihrer Fähigkeit, sich in andere Personen versetzen und so deren Gedanken lesen zu können, einen Mord aufklären – und lernt dabei genauso viel über die Dorfbewohner wie auch über sich selbst.

Alex Chen ist eine junge Frau. Weibliche Hauptrollen sind in der Spieleindustrie noch immer eine mutige Entscheidung, ist doch ein Großteil der Spieler männlich. Benjamin Strobel, Psychologe mit Spezialisierung auf den Bereich Games und Medien, erklärt dies damit, dass Spieler dann besonders emphatisch sind, wenn sie die anderen als ihnen ähnlich erleben. Unterscheidet sich die Spielfigur in Hautfarbe oder Geschlecht, führt das zu weniger Empathie. "Hier müssen wir aktiv üben, uns in sie einzufühlen und ihre Perspektive zu übernehmen", sagt Strobel. Das muss aktiv geübt werden. Ein Aspekt, der auch im Spiel selbst ein Thema ist.

Mit ihrer Superkraft spürt Alex die Gefühlswelt ihrer Mitmenschen.
Foto: Square Enix

Gefühle verarbeiten

"Emotionen spielen eine große Rolle beim Spielen – es geht gar nicht ohne," sagt Strobel. Wir freuen uns, wenn wir gewinnen, und fiebern mit, wenn geliebten Figuren in einer Geschichte etwas zustößt. Das funktioniert in Spielen genauso wie in anderen Medien. Werden Emotionen bei uns ausgelöst, dann bleiben wir dran. Games haben im Vergleich zu Film und Fernsehen noch die zusätzliche Komponente, dass man das Geschehen selbst beeinflussen kann. Das motiviert und belohnt nicht nur zusätzlich, "wir sind dadurch auch besonders involviert in die Geschichte und emotional besonders investiert in unsere Figur".

Um Gefühle verarbeiten zu können, gibt es laut Strobel "funktionale Strategien", viele davon werden in True Colors gezeigt. Beispielsweise führt Alex ein Tagebuch, "in dem sie emotionale Momente dokumentiert". Das ist eine tatsächlich in der Psychotherapie angewandte Methode. Auch Ereignisse zu reflektieren oder Trauer in Form von kreativen Tätigkeiten auszudrücken und so zu verarbeiten, finden sich sowohl in der Realität als auch im Spiel.

Hinzu kommt eine Entschleunigung in der Erzählung von True Colors, die einen starken Kontrast zu der Getriebenheit vieler Actionspiele bietet. Es gibt öfter Spielszenen, in denen man sich hinsetzen und nichts machen kann. Warum sollte man das tun? Laut Strobel soll der Spieler dadurch die Umgebung und den Augenblick in sich aufnehmen. In der Psychologie nennt man dies Achtsamkeit. "Solche Achtsamkeitsübungen werden auch in der Therapie eingesetzt und können bei verschiedenen psychischen Belastungen helfen, zum Beispiel bei der Stressbewältigung", so Strobel. Einen therapeutischen Charakter will Strobel dem Spiel nicht zusprechen – sehr wohl aber den Mut, uns Anregungen für mehr Achtsamkeit im Alltag zu geben.

Einfach mal nichts machen, in der Psychologie auch Achtsamkeit genannt.
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Spiegel unseres Selbst

"True Colors gehört somit in die Riege jener modernen Geschichten, die uns teilhaben lassen an Figuren, die mit menschlichen Gefühlen zu kämpfen haben. "Empathie ist eine Superkraft, die wir alle haben und mit der wir von Geburt an ausgestattet sind", sagt Strobel. Wir Menschen sind von klein auf "Staubsauger für Emotionen", die lachen müssen, wenn andere lachen, oder beim Anblick von traurigen Menschen selbst einen Kloß im Hals verspüren. Deshalb verspüren wir auch bei Spielen wie True Colors so viele Gefühle, von Angst über Wut bis hin zu Trauer. Videospiele als Spiegel der Gesellschaft und als Spiegel für uns, um uns vielleicht auch in unserem Alltag mehr in andere Menschen hineinversetzen zu wollen. Auch das ist ein schöner Gedanke. (Alexander Amon, 21.9.2021)