Hoffen auf eine bessere Zukunft am anderen Ufer des Rio Grande.

Foto: PAUL RATJE

Spätestens jetzt, acht Monate nach seiner Vereidigung, ist US-Präsident Joe Biden in den Mühen seines Amtes vollends angekommen. Die Turbulenzen rund um den Abzug aus Afghanistan sind noch gar nicht so richtig ausgestanden, und nun hat er es mit einer ausgewachsenen Flucht- und Migrationskrise an der Südgrenze der USA zu tun. Seit Bidens Amtsantritt sind dort mehr als 1,3 Millionen Flüchtlinge und Migranten registriert worden – so viele waren es in den vergangenen 20 Jahren nicht.

Dramatisch zugespitzt hat sich die Lage in den vergangenen Tagen an einer Brücke über den Grenzfluss Rio Grande zwischen dem mexikanischen Ciudad Acuña und dem texanischen Del Rio. Dort hatten sich zehntausende Menschen aus dem Krisenstaat Haiti versammelt, in der Hoffnung, es auf diesem Weg in die Vereinigten Staaten zu schaffen. Erwartet wird zudem, dass sich weitere Haitianerinnen und Haitianer auf den Weg dorthin machen.

Notstand ausgerufen

Der Bürgermeister von Del Rio, Bruno Lozano, rief den Notstand aus und ließ die Brücke über den Rio Grande sperren. Es drohe eine humanitäre Katastrophe, so der Ortschef zur Texas Tribune: "Es gibt Frauen, die gebären, Leute, die wegen der Temperatur in Ohnmacht fallen, sie sind ein bisschen aggressiv, und das ist normal nach all diesen Tagen in der Hitze."

Laut der Nachrichtenagentur Reuters kamen die meisten Menschen nicht direkt aus Haiti, sondern haben eine lange Reise durch Lateinamerika hinter sich.

Der US-Grenzschutz beorderte 400 zusätzliche Kräfte nach Del Rio. Gleichzeitig erklärte das Heimatschutzministerium, die Flüchtlinge und Migranten auf andere Orte in der Region umzuverteilen, um ihren Status rascher zu klären. Es soll sichergestellt werden, dass Menschen ausgewiesen würden, wenn sie sich unrechtmäßig in den USA aufhielten. Das Weiße Haus habe die zuständigen US-Behörden angewiesen, mit der haitianischen und anderen Regierungen in der Region zusammenzuarbeiten, um den Menschen nach ihrer Rückkehr Hilfe und Unterstützung zu bieten.

Mehr Flugzeuge

Am Wochenende waren die US-Behörden um Eile bemüht: Binnen 72 Stunden sollten zusätzliche Transportmittel beschafft werden, um Tempo und Kapazität von Abschiebeflügen nach Haiti und zu anderen Zielen in der Region zu erhöhen, so das Heimatschutzministerium.

Haitis Premierminister Ariel Henry schrieb in sozialen Medien, er erkläre sich solidarisch mit seinen Landsfrauen und -männern an der US-Grenze. "Vereinbarungen wurden getroffen", um sie in der Heimat wärmstens zu empfangen.

Mord, Erdbeben, Corona

Der Karibikstaat Haiti war Mitte August von einem schweren Erdbeben erschüttert worden. Mehr als 2000 Menschen kamen ums Leben. Kurz zuvor war Präsident Jovenel Moïse ermordet worden. Viele Haitianer waren bereits nach dem verheerenden Erdbeben 2010 nach Südamerika geflohen. Und die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie haben die ohnehin prekäre Situation in Haiti weiter verschärft.

Als Schuldiger dieser Flucht- und Migrationskrise wird von beiden Parteien Biden ausgemacht. Bürgermeister Lozano, wie der Präsident Demokrat, kritisierte schon vor Monaten, wie die Regierung mit der Situation an der Südgrenze umgehe. Und der texanische Gouverneur Ted Cruz, ein Republikaner, sprach bei einem Besuch in Del Rio von einem von "Joe Biden verursachten Desaster". Er führte die Situation auf die Entscheidung des Präsidenten zurück, infolge der Ermordung Moïses die Abschiebeflüge in das Karibikland auszusetzen. (Kim Son Hoang, 19.9.2021)