22. August, Kabul: die Husainis vor dem Abflug nach Italien.

Foto: privat

Sardinien soll für Sajjad Husaini nur eine Zwischenstation sein.

Den früheren Skiguide Husaini zieht es in die Alpen.

Foto: privat

Bei der Eröffnung der Ski-WM 2017 in St. Moritz stand nur sein afghanischer Landsmann Alishah Farhang zwischen Idol Marcel Hirscher und Sajjad Husaini.

Foto: privat

Marcel Hirscher ist mein großes Idol. Es war ein großer Augenblick für mich, als ich bei der Nationenparade zur Eröffnung der Ski-WM 2017 in St. Moritz ganz in seiner Nähe gestanden bin, weil es von Afghanistan zu Austria nicht weit ist – zumindest im Alphabet. Hirscher hat die österreichische Fahne getragen, natürlich hab ich einige Fotos gemacht, es gibt auch ein gemeinsames von uns, das schau ich mir manchmal an. Auch jetzt, auch hier auf Sardinien, wo ich nach meiner Flucht gelandet bin.

Es ist, als hätten sich zehn Jahre in Luft aufgelöst. Von einem Tag auf den anderen ist die Hoffnung einer großen Verzweiflung gewichen. Eine schreckliche Wiederholung von 1998. Da sind die Taliban zum ersten Mal nach Bamyan gekommen, und ich musste meine Heimat zum ersten Mal verlassen. Ich war gerade einmal sechs Jahre alt, als meine Familie in den Iran flüchten musste. Einige Monate davor war meine Mutter von den Taliban angeschossen worden. Wir hatten in den Bergen Zuflucht gesucht, es war kein Spital in der Nähe, und wir konnten nicht zurück, um die Schusswunde behandeln zu lassen. Die Taliban hätten jeden umgebracht, der sich blicken ließ. Am Ende musste meiner Mutter das linke Bein amputiert werden.

Ein wunderschönes Land

An die Zeit im Iran erinnere ich mich nicht besonders gerne, die dreizehn Jahre dort waren hart. Ich habe in Isfahan eine Schule für afghanische Flüchtlingskinder besucht. 2011 sind wir endlich nach Hause zurückgekehrt, nach Bamyan, in unser altes Leben, das eigentlich ein neues Leben war. Ich habe beim Tourismusentwicklungsprojekt der Aga Khan Foundation begonnen. Meine Aufgabe war es, über den Bamyan Skiclub und das Silk-Road-Reisebüro Bamyan ganzjährig für Touristen interessant zu machen.

Mit dem Skisport konnte ich mir selbst einen Traum erfüllen – und ein positives Bild von Afghanistan in die Welt transportieren. Ein Bild von einem wunderschönen Land, ein Bild ohne Explosionen, ein Bild ohne Krieg. Nebenbei habe ich Jus studiert, an der Universität von Bamika in Bamyan. Gelernt habe ich am Abend und in der Nacht.

Christoph Zürcher, ein Schweizer Journalist, der immer wieder aus Afghanistan berichtet hat, ist der Gründer des Bamyan Skiclubs. Er ist in die Gegend gekommen und hat gefunden, sie wäre ein ideales Skigebiet. Christoph hat mir sehr geholfen, ab 2012 den Skisport in Afghanistan zu etablieren. Das Skifahren hat mich so begeistert, dass ich einen Verband gegründet habe und gleich selbst Cheftrainer geworden bin. Gemeinsam mit Freunden habe ich einer Schar von Talenten das Skifahren beigebracht, da waren auch viele Mädchen und Frauen dabei. Wir haben begonnen, jedes Jahr afghanische Meisterschaften zu veranstalten.

Zu Beginn mussten immer alle mit den Skiern den Berg hinaufstapfen, nach Jahren haben wir einen einfachen, circa 200 Meter langen Skilift konstruiert, einen Schlepplift, der vom Motor eines Mofas angetrieben wurde. Für die Anfänger war der Lift gut genug, für alle anderen war er viel zu kurz. Ich habe hunderte Touristen aus der ganzen Welt betreut. Wir haben nicht nur Skitouren, sondern auch Trekking-, Wander-, Schneeschuh- und Mountainbiketouren organisiert.

Und es gab kulturelle Ausflüge, etwa zu den Nischen der berühmten Buddha-Statuen von Bamyan, die fast 1500 Jahre alt waren, als sie 2001 von den Taliban zerstört wurden. Als Skifahrer war ich ein Friedensbotschafter meiner Heimat, der Sport führte mich in die Schweiz, nach Italien, Deutschland, Südkorea und in viele andere Länder. Österreich kenne ich nur von der Durchreise, weil ich einmal zum Flughafen nach München musste.

Nach der WM 2017 in St. Moritz habe ich natürlich davon geträumt, auch an den Olympischen Spielen 2018 teilzunehmen. Dieser Traum ist leider geplatzt, aber immerhin war ich auf Einladung des IOC in Südkorea.

Panik in Bamyan

Mein Ziel war es immer, der Welt von der Schönheit meiner Heimat zu berichten. Die Menschen sollten sehen, dass Afghanistan nicht mehr das Land war, das sie jahrelang in den Nachrichten gesehen hatten. Neben St. Moritz und der Skifirma Völkl hat uns eine Zeitlang auch das IOC gefördert. Doch 2019 war es damit praktisch vorbei. Mit der Pandemie ist alles noch schwieriger geworden. Das letzte Mal Ski gefahren bin ich vor einem Jahr bei einem Trainingslager in Pakistan.

Und jetzt ist es so, als wäre zum zweiten Mal die Hoffnung gestorben. Als die Taliban nach dem Abzug der Amerikaner fast über Nacht wieder an die Macht gekommen sind, ist in Bamyan Panik ausgebrochen. Die Menschen dort, auch wir, gehören zur Volksgruppe der Hazara. Und wir wissen, dass die Taliban ein Sprichwort haben: "Tadschiken gehören nach Tadschikistan, Usbeken gehören nach Usbekistan, und Hazara gehören unter die Erde." Kein Wunder, dass so viele in Bamyan um ihr Leben gefürchtet haben. Verwandte haben versucht, über die Grenze in den Iran zu gelangen, auch dort kam es zu Tumulten, meine Schwiegermutter ist dabei von iranischen Grenzpolizisten erschossen worden.

Meine Frau und ich haben richtig Angst bekommen, vor allem um unsere kleinen Söhne. Der eine ist fast zwei Jahre, der andere neun Monate alt. Selbst wenn uns die Taliban jetzt verschont hätten, hätten wir uns nie sicher fühlen können. Mädchen werden zwangsverheiratet, doch die Taliban nehmen auch viele Buben den Eltern weg und bilden sie zu Soldaten aus.

Wir haben keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als alles hinter uns zu lassen, was wir in Bamyan aufgebaut hatten. Ich habe mich von meiner Mutter und drei meiner Brüder verabschiedet, ich weiß nicht, ob wir uns jemals wiedersehen. Niemand in Afghanistan ist in Sicherheit, in Bamyan schon gar nicht. Jeden Tag passieren schreckliche Dinge, jeden Tag werden Menschen umgebracht. Mein vierter Bruder, meine Schwester und ihr Mann haben es ebenfalls geschafft, Afghanistan zu verlassen. Der Bruder war Polizist, die Taliban hätten ihn umgebracht. Meine Schwester und ihr Mann haben immer wieder zivilen Widerstand geleistet, auch sie wären ermordet worden.

Drei Tage im Hangar

Wir sind nach Kabul gereist, um es dort am Flughafen zu versuchen, obwohl wir gewusst haben, dass es lebensgefährlich ist. Freunde haben uns geholfen, allen voran Christoph Zürcher und Roberto Baratelli, ein italienischer Unternehmer, der oft zum Skifahren in Bamyan war und ein besonders guter Freund geworden ist. Auch die NGO Zenzero aus Lugano hat viel für Familien aus Bamyan getan, unter anderem wurde auch ein Fundraising initiiert.

Drei Tage lang sind wir mit hunderten anderen in einem Hangar gesessen, am 22. August haben wir es geschafft. Mit nichts außer dem Gewand, das wir trugen, und einigen Dokumenten sind wir ins Flugzeug nach Rom gestiegen. Wir sind entkommen, insgesamt 29 Personen vom Skiclub Bamyan, darunter vier Familien mit sieben kleinen Kindern. Die meisten sind in Italien geblieben, der italienische Staat hat sich sehr eingesetzt für afghanische Flüchtlinge. Einige sind weitergereist und in Frankreich aufgenommen worden.

Derzeit halten wir uns auf Sardinien auf. Wir haben ein Dach über dem Kopf, wir bekommen Verpflegung. Und es gibt Menschen, die sich um uns kümmern und uns bei den Behördenwegen helfen, damit wir politisches Asyl bekommen. Ich hoffe, wir können bald in die Alpen übersiedeln. Dort will ich wieder Ski fahren und vor allem eine Tätigkeit finden, um Geld zu verdienen. Vor einigen Monaten noch habe ich gehofft, ich könnte bei den Winterspielen im Februar in China dabei sein. Aber ich bezweifle, dass sich das ausgehen kann. Und ich weiß auch gar nicht, ob ich überhaupt dorthin will. Ich träume davon, an den Olympischen Spielen 2026 in Cortina d’Ampezzo teilzunehmen. Und ich träume von einem neuen Leben. (Zugehört und aufgezeichnet hat: Fritz Neumann, 20.9.2021)