Am Ende war es eine Punktlandung: War die Kreml-Partei Einiges Russland in den ersten Hochrechnungen zur russischen Parlamentswahl noch unter 40 Prozent gelegen, schraubte sie ihr Ergebnis schließlich auf fast genau 50 Prozent der Stimmen. Damit liegt sie zwar unter dem Ergebnis von vor fünf Jahren (54,2 Prozent), aber es reicht für eine satte Mehrheit im Parlament.

Zumal die Partei gleichzeitig bei den Direktmandaten dominiert, über die 225 der 450 Sitze vergeben werden. Insgesamt holte Einiges Russland fast 200 Direktmandate. Damit bleiben die Machtverhältnisse in den nächsten fünf Jahren weitgehend konstant. Die Mehrheit von gut 300 Abgeordneten reicht der Kreml-Partei, um auch weiterhin, wenn nötig ohne die Hilfe anderer Parteien, die Verfassung zu ändern.

Einiges Russland holte fast 200 Direktmandate.
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"Bedingungen stärkster Konkurrenz"

Wie wichtig das für die Partei ist, betonte deren Generalsekretär Andrej Turtschak, der gesondert auf diesen Erfolg hinwies. Im vergangenen Jahr hat die Duma schon einmal die Verfassung geändert, um damit die bisherigen Amtszeiten von Präsident Wladimir Putin zu annullieren und ihm 2024 ein erneutes Antreten bei der Präsidentenwahl zu ermöglichen.

Laut Turtschak hat Einiges Russland den Sieg unter den "Bedingungen stärkster Konkurrenz" errungen, in einigen Wahlkreisen "ging der Kampf um jede Stimme", sagte er. Das trifft allerdings bei weitem nicht auf alle Regionen zu.

Kaukasus, Kraftzentrum des Kreml

Wie schon traditionell als "Kraftzentrum" des Kreml präsentierte sich der Kaukasus. Einmal mehr war hier Tschetschenien Spitzenreiter. Bei einer Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent stimmten mehr als 96 Prozent für Einiges Russland. Noch besser schnitt übrigens Republikchef Ramsan Kadyrow ab, der sich gleichzeitig zur Wiederwahl stellte. Er bekam 99,7 Prozent.

Neben dem Kaukasus waren die Ergebnisse auch in der sibirischen Teilrepublik Tuwa (85 Prozent), in Tatarstan (80 Prozent) und Kemerowo und Baschkortostan (um die 70 Prozent) auffällig hoch. Auffällig ist jedenfalls: Tendenziell schnitt die Regierungspartei in den sozial schwächeren Regionen Russland stärker ab. Kritiker sehen hier einen Zusammenhang mit administrativen Ressourcen.

Manipulationsvorwürfe

Aber nicht nur das: Die Opposition wirft dem Machtapparat Manipulationen der Wahl zugunsten der Kremlpartei vor. Das Team des inhaftierten Kremlgegners Alexej Nawalny sprach von der "schmutzigsten Wahl" seit Jahren. Nawalnys Mitarbeiter Leonid Wolkow kritisierte auf Twitter: "Diese Wahlen sind schmutziger als die von 2011 – viel schmutziger."

Auch die EU übte scharfe Kritik am Ablauf des Urnengangs. Bemängelt wurde der Ausschluss "internationaler, unabhängiger und glaubwürdiger Beobachter" bei der Wahl, wie sie normalerweise von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gestellt werden. Der Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, Peter Stano, warf Moskau eine "Atmosphäre der Einschüchterung aller kritischen unabhängigen Stimmen" vor. "Wir haben eine Reihe von Berichten unabhängiger Beobachter vor Ort, die auf viele Unregelmäßigkeiten während dieser Wahl hinweisen", betonte der Sprecher.

Gemeint dürften unter anderem Berichte der russische Organisation Golos sein. Deren unabhängige Wahlbeobachter hatten mehr als 4.000 Verstöße aufgelistet. Besonders verbreitet waren demnach unter anderem erzwungene Stimmabgaben etwa unter Staatsbediensteten.

Mit unrechten Dingen soll es auch in Moskau zugegangen sein: Golos sprach dort von einem klar belegbaren Betrug. Sie forderte die Wahlkommission zur Annullierung der Ergebnisse auf. Es seien 78.000 Stimmzettel für die Online-Abstimmung mehr ausgewiesen worden als an Wahlberechtigte ausgegeben, teilte der Golos-Experte Roman Udot bei Facebook mit. Es sei an einer Verlaufskurve klar erkennbar, dass gegen Ende der Abstimmung am Sonntag die Zahl der abgegebenen Stimmen die der registrierten deutlich übersteige. In den Wahlkreisen der Hauptstadt hatten bei der Handauszählung der Stimmzettel mehrheitlich Kandidaten anderer Parteien als der Kremlpartei – vor allem von den Kommunisten – gewonnen. Nach Veröffentlichung der Ergebnisse der erstmals so organisierten elektronischen Abstimmung am Montag lagen plötzlich überall die Bewerber der Kremlpartei vorn. Die Kommunisten, die sich hier übergangen fühlen, erkennen das Ergebnis nicht an und kündigten Straßenproteste an.

Kreml sieht Wahl als rechtmäßig

Wahlleiterin Ella Pamfilowa und das Innenministerium hatten einzelne Verstöße bestätigt und auch Tausende Wahlzettel annulliert. Sie sprachen aber von einer unbedeutenden Zahl an Beschwerden, die keinen Einfluss hätten auf die Abstimmung insgesamt. Auch der Kreml sieht keinen Grund für Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahl. Die Abstimmung sei "frei und fair" gewesen, sagte Sprecher Dmitri Peskow. "In dieser Hinsicht bewerten wir die Wahl ziemlich positiv."

Änderungen im Parlament wird es jedenfalls trotzdem geben: Die meisten Zugewinne erzielte die KPRF, die ihr Ergebnis von 13 Prozent (2016) auf 20 Prozent verbessern konnte. In drei Regionen – Chabarowsk, Jakutien und dem Autonomen Kreis der Nenzen – gewannen die Kommunisten die Abstimmung sogar vor dem Einigen Russland. Das zeugt davon, dass die Unzufriedenen, sofern sie denn wählen gehen (die Wahlbeteiligung lag unter 50 Prozent), die KPRF als einzige echte Alternative zum Kreml wahrnehmen.

Verluste hingegen musste die LDPR um den Populistenführer Wladimir Schirinowski hinnehmen, die vor fünf Jahren nur knapp hinter den Kommunisten auf Rang drei gelandet war. Heuer erzielte die LDPR nur noch 7,5 Prozent, womit sie ganz knapp vor der vierten Duma-Partei, Gerechtes Russland, eintrudelte.

Gutes Ergebnis für Neue Leute

Wichtigste Neuerung: Die Partei Neue Leute des Kosmetikunternehmers Alexej Netschajew schaffte allem Anschein nach ebenfalls den Sprung in die Duma. Nach Auszählung von mehr als 90 Prozent der Stimmen lag die Partei über der Fünf-Prozent-Hürde.

Allerdings fechten sowohl Einiges Russland als auch Gerechtes Russland die Abstimmung in Jakutien an. Dort hatten die Neuen Leute, für die auch die ehemalige Bürgermeisterin von Jakutsk kandidierte, ein überproportional gutes Ergebnis erzielt.

In Interviews vor der Wahl präsentierte Netschajew die Neuen Leute als liberale Kraft. So gelang es ihm, einen Teil der Stammwähler von Jabloko oder liberalen Projekten wie der Partei des Wachstums oder der Bürgerplattform zu gewinnen.

Es spricht allerdings wenig dafür, dass mit den Neuen Leuten nun ein oppositioneller Geist Wiedereinzug ins Parlament hält. Mit Kritik an Putin hat sich Netschajew bisher zurückgehalten. Zahlreichen Indizien nach handelt es sich nur um ein weiteres im Kreml selbst entwickeltes Projekt, um den liberaleren Teil der Wählerschaft zu kontrollieren. (André Ballin, 20.9.2021)