Wer sich im Gleichklang mit anderen Menschen bewegt – wie hier Mönche beim Magha-Puja-Feiertag in Thailand –, fühlt sich mit diesen stärker verbunden.

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Es war wohl eine der größten Zoom-Konferenzen, die es je gegeben hat: Mehr als 200.000 Menschen nahmen Anfang des Jahres online am Magha-Puja-Fest teil, einem der wichtigsten religiösen Feiertage für die Theravada-Buddhisten in Thailand. Statt die Veranstaltung wie üblich in einem Tempel am Rande Bangkoks abzuhalten, hatte man aufgrund der Pandemie in diesem Jahr eine 280 Meter lange Leinwand aufgebaut, auf der sich die Teilnehmer zu einem gigantischen bunten Mosaik aus Gesichtern formten. Man wolle, dass die Menschen trotz Covid-19 weiterhin verbunden bleiben, hieß es seitens der Veranstalter.

Gebetet, gefeiert und meditiert wird innerhalb von religiösen und spirituellen Bewegungen seit tausenden Jahren – nicht nur trotz, sondern gerade in Zeiten von Krisen wie der aktuellen Pandemie. Zwar ist die Verbesserung der mentalen Gesundheit wohl für viele Menschen nicht unbedingt der Hauptgrund, sich einem bestimmten Glauben zu verschreiben, trotzdem ist sie häufig die positive Folge davon. Religion und Spiritualität können laut Studien Menschen dabei helfen, besser mit Krisen, Ängsten und Depressionen fertigzuwerden, die Einsamkeit lindern und sogar zu einem längeren Leben führen.

Mehr Hilfsbereitschaft

Laut dem US-amerikanischen Sozialpsychologen David DeSteno von der Northeastern University in Boston, Massachusetts, der kürzlich ein Buch mit dem Titel "How God Works: The Science Behind the Benefits of Religion" zu dem Thema veröffentlicht hat, haben sich einige dieser positiven Effekte bereits in Experimenten gezeigt. Darin teilten DeSteno und sein Team beispielsweise Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen auf, von denen die erste einen achtwöchigen Meditationskurs eines tibetischen Buddhisten besuchte und die zweite als Kontrollgruppe nicht meditierte.

Im Anschluss wurden die Teilnehmer aus beiden Gruppen mit einer Situation konfrontiert, in der sie entscheiden konnten, ob sie einer fremden Person helfen wollten oder nicht (die Studienautoren hatten dafür einen Schauspieler engagiert, der vorgab, mit Krücken nach einem Sitzplatz in einem überfüllten Raum zu suchen). Rund die Hälfte derer, die meditiert hatten, halfen der fremden Person, während von jenen, die nicht meditierten, dies nur 16 Prozent taten, heißt es in der Studie. Zudem habe sich in Studien gezeigt, dass Meditation Menschen dabei helfen kann, Aggressionen zu reduzieren.

Im Gleichklang bewegen

Die positiven Effekte von Religion beschränken sich aber nicht auf Meditation, wie sie etwa im Buddhismus oder Hinduismus praktiziert wird. Auch Dankbarkeit spiele eine Rolle. Wer im Alltag mehr Dankbarkeit zeige – ein Ritual, das beispielsweise auch im Christentum eine besondere Rolle spielt, wenn etwa Dank vor einem Essen ausgesprochen wird –, sei hilfsbereiter, großzügiger und geduldiger mit anderen Menschen, so DeSteno.

Selbst wenn sich Menschen lediglich im Gleichklang mit anderen Menschen bewegen, etwa während eines Gebets, erzeuge dies bereits eine stärkere Verbindung zwischen den Beteiligten und mache sie hilfsbereiter.

Bedeutung für Zukunft

Dass die psychologischen Auswirkungen von Religion und Spiritualität wissenschaftlich untersucht werden, ist nicht neu, sie erfahren aber gerade seit einigen Jahren Aufwind. Während die Säkularisierung in westlichen Gesellschaften einerseits dazu beitrug, Religion im öffentlichen Leben zunehmend in den Hintergrund zu drängen, ist es paradoxerweise genau die seit der Aufklärung oftmals religionskritische Wissenschaft, die deren Bedeutung nun erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.

Die Erkenntnis vieler sogenannter Funktionalisten in den Sozialwissenschaften, also Wissenschafterinnen und Wissenschaftern, die die Bedeutung von Religion anhand ihrer Funktion in der Gesellschaft zu erklären versuchen: Religionen bieten Gesellschaften viele Vorteile, beispielsweise sozialen Zusammenhalt, Gemeinschaft und Lebenssinn, weshalb sie nicht nur in der Vergangenheit überdauerten, sondern – allen Untergangsrufen zum Trotz – auch in Zukunft weiterbestehen werden.

Rolle in Krisenzeiten

Tatsächlich sind Religionen, global betrachtet, weit davon entfernt, von der Bildfläche zu verschwinden. Einem modellierten Szenario des Pew Research Center von 2015 zufolge wird sich die Zahl religiös gläubiger Menschen global bis 2050 von aktuell 84 Prozent auf 87 Prozent erhöhen. Angetrieben werde die Entwicklung vor allem von der steigenden Bevölkerungszahl in Entwicklungsländern, wo Religionen eine stärkere Rolle einnehmen werden.

Gerade in jenen Regionen und Situationen, wo Menschen mit schwierigen Krisen konfrontiert sind, kann Religion wichtige psychologische Unterstützung bieten und dadurch an Bedeutung gewinnen, heißt es in Studien.

Negative Aspekte

Religion und Spiritualität können der geistigen Gesundheit aber auch schaden. Dazu muss man nicht erst auf die fundamentalistischen und gewalttätigen Ausprägungen bestimmter Glaubensgruppen verweisen. Extreme Formen spiritueller Askese können zu Depressionen oder Ängsten führen, ein zu starker Fokus auf Einzigartigkeit zu Narzissmus. Religionen und Glaubensvorstellungen, die Vernunftdenken ausschließen, keine Kritik zulassen, Aggressionen, Vorurteile oder Intoleranz gutheißen oder Hilflosigkeit der Menschen fördern, schaden ebenfalls der geistigen Gesundheit. Ebenso tut es der Glaube an einen Gott, der bestrafend oder einschüchternd agiert, heißt es in Studien.

Religion ist laut Wissenschafterinnen und Wissenschaftern also ein zweischneidiges Schwert, das uns mental sowohl nützen als auch schaden kann. Negative von positiven Einflüssen noch besser unterscheiden zu lernen kann künftig nicht nur jedem einzelnen Menschen und auch bei Psychotherapien helfen, sondern der Religion möglicherweise auch in säkularisierten Gesellschaften einen fixen Platz für die Zukunft einräumen. (Jakob Pallinger, 22.9.2021)