Die Regisseurin und Drehbuchautorin Shahrbanoo Sadat nach ihrer Flucht in Paris: "Vergessen wird nicht: Was in Afghanistan passiert, ist ein Verbrechen. Das geht die ganze Welt etwas an."

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Ihr erster Kinofilm Wolf and Sheep war 2016 beim Filmfestival Cannes zu sehen, 2019 folgte The Orphanage. Ende August gelang der afghanischen Regisseurin Shahrbanoo Sadat die Flucht von Kabul nach Paris. Inzwischen ist sie nach Hamburg umgezogen, wo sie von der deutschen Regierung provisorisch Asyl erhalten hat. Dem STANDARD schilderte sie ihre Erfahrungen.

STANDARD: Können Sie uns schildern, wie Sie die dramatischen Tage in Kabul erlebt haben?

Sadat: Als die Taliban in ihren Pick-ups vorfuhren, kam es mir vor, als wäre ich in einem Film. Ich hatte am selben Morgen versucht, etwas Geld auf der Bank abzuheben, da die Verteilautomaten leer waren. Als ich schon stundenlang in der Schlange stand, schloss der Wächter plötzlich den Schalter und sagte: "Sie kommen!" Alle rannten weg, ich kehrte in meine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul zurück. Mit meiner Familie fühlte ich mich wie in einer Falle. Wir versuchten vergeblich, über Telefon die Flucht zu planen.

Nach fünf Tagen fuhren wir nachts um zwei Uhr einfach zum Flughafen. Die Taliban waren an allen drei Eingangstoren. Sie schossen in die Luft, schlugen auf die Leute ein, während wir von der Menschenmenge erdrückt wurden. Einige erstickten fast. Drei Tage, 72 Stunden, verbrachten im Gedränge, und wir hatten nur etwas Wasser, Thunfisch und Brot. Ich hatte Angst um meinen herzkranken Vater. Wir Frauen konnten während der 72 Stunden kein einziges Mal auf die Toilette. Das Schlimmste waren nicht die Taliban, sondern die Menge.

STANDARD: Als Sie endlich durch einen Checkpoint gelangten, muss das wie eine Erlösung gewesen sein.

Sadat: Für die Hälfte von uns – ja. Zehn andere Familienangehörige blieben aber zurück, weil sie keine Papiere hatten. Die Ausscheidung war absurd. Ein amerikanischer Soldat sagte: "Du kannst zum Flugzeug gehen – du nicht." Eine Freundin in Paris hatte es geschafft, dass ein Teil meiner Familie auf eine Liste des französischen Außenministeriums kam. Dank ihr konnten wir Ende August nach Abu Dhabi ausfliegen und von dort nach Paris, in ein Hotel und dann in ein verlassenes Gebäude in einem Vorort. Seit einigen Tagen bin ich nun in Hamburg, wo uns die deutsche Regierung aufgenommen hat. Ich bin dankbar dafür; zugleich verspüre ich Schuldgefühle, weil ich am Flughafen in Kabul durchkam, im Gegensatz zu anderen.

STANDARD: Sie stehen sicher in Kontakt mit Einwohnern von Kabul. Wie leben sie momentan?

Sadat: Sie leben weiterhin wie unter Schock. Die Läden sind zudem leer, die Banken zu, die Warteschlangen endlos. Viele Leute haben ihren Job verloren, weil sie in Boutiquen, Musikläden, Restaurants oder Amtsstellen gearbeitet hatten. Sie wollen weg. Aber sie kommen nicht einmal nach Pakistan, weil zum Verlassen des Landes ein neuer Pass des "Islamischen Emirates Afghanistan" nötig ist. Und der kostet viel Geld.

STANDARD: Man hörte zum Teil, die "neuen" Taliban gingen etwas moderater vor als früher ...

Sadat: Das sind Behauptungen, mit denen sie die Medien füttern. Eine Terrorgruppe verändert sich nicht. Vergessen wird nicht: Was in Afghanistan passiert, ist ein Verbrechen. Das geht die ganze Welt etwas an.

STANDARD: Dürfen die Frauen nicht an die Unis?

Sadat: Aber nur geschlechtergetrennt und nur völlig verschleiert. Eine Horrorvision. Dabei entsprechen die Vorgaben keinerlei afghanischer Tradition. Stellen Sie sich vor: Die Frauen erhalten eine sogenannte "Bildung" – aber das Denken ist ihnen nicht erlaubt! Nein, die Taliban haben sich nicht geändert, sie sind bloß schlauer geworden, weil sie es sich mit der internationalen Gemeinschaft nicht verderben wollen. Die Wahrheit habe ich am Flughafen mit eigenen Augen gesehen, als sie zwei Taschendieben die Finger abschnitten. Damit es die Welt nicht sieht, haben sie uns untersagt zu filmen.

STANDARD: Wie ist die Lage auf dem Land?

Sadat: In Gebieten wie dem Panjshir, wo es Widerstand gibt, gehen die Taliban mit äußerster Härte vor. Ich habe ein Video gesehen, wo sie einen Mann mit einem Kopfschuss niederstreckten. In Kabul gibt es immerhin Journalisten, auch wenn ihre Kameras oft zerstört werden. Nicht auf dem Land. Dort verlangen die Taliban von den Ärmsten Nahrung, sie besetzen Bauernhöfe, treiben willkürlich 20 Prozent Steuern ein und rekrutieren Jugendliche für ihre sogenannte Armee.

STANDARD: Wie verfahren die Taliban mit Kunstschaffenden?

Sadat: Das ist ganz einfach: Wie ein Sprecher der Taliban sagte, gibt es für Künstler in Afghanistan "keinen Platz" mehr. Die Künstler sind aufgefordert, sich ein anderes Betätigungsfeld zu suchen. Da Musik verboten ist, müssen sich die vielen lokalen Sänger etwas Neues suchen. Die Kabuler Fakultät der schönen Künste ist geschlossen. Frankreich hat sich vieler Kunstschaffender angenommen und 270 von ihnen ausgeflogen. Aber sie können im Exil natürlich nicht mehr mit der gleichen Hingabe arbeiten. In Afghanistan wird die Kunst ausgemerzt. Es ist zum Weinen. Mittlerweile sage ich mir: Genug geweint! Aber ich muss mich bemühen, nicht mehr ständig in Tränen auszubrechen.

STANDARD: Sind auch Künstler im Land geblieben?

Sadat: Ja, einer meiner früheren Mitstudenten sagte mir, er wolle bleiben. Er habe keine Familie und nichts zu verlieren.

STANDARD: Wie sehen Sie Ihre eigene Zukunft?

Sadat: Ich trage mich seit zwei Jahren mit dem Projekt eines Spielfilms über das Liebesleben der jungen Mittelklasse von Kabul. Es ist eine romantische Komödie, aber nicht auf süßliche Hollywoodweise, sondern nach afghanischer Art. Kabul ist eine unsichere, gefährliche Stadt, aber sie ist auch voller Leben. Dieses Filmprojekt möchte ich, wo auch immer, zu Ende bringen, schon allein als Hommage an die Kabuler Mittelklasse, die es vielleicht bald gar nicht mehr geben wird. Über die neue Taliban-Ära werde ich nicht so schnell einen Film machen, dafür habe ich zu wenig Abstand, zu wenig Reflexion. Das muss ich zuerst verarbeiten.

STANDARD: Gibt es Hoffnung für Afghanistan?

Sadat: Es muss Hoffnung geben, gerade in diesen düsteren, schwarzen Tagen. In den ersten zwei Wochen nach der Ankunft der Taliban bewegte sich nichts, und ich hatte Angst, dass die Leute die neue Gewaltherrschaft hinnähmen. Aber dann gingen sie in den Städten auf die Straße. Das ist sehr wichtig. Frauen demonstrierten ganz vorne. Sie scheuen sich nicht, die Taliban an den Straßenkreuzungen anzusprechen. Ich kenne Kabul und frage mich, woher diese Rebellinnen mit einem Mal kommen. Denn in den letzten zehn Jahren sah man sie nirgends protestieren. Jetzt erfüllen sie mich mit Freude und Stolz, wie sie oft ohne Verschleierung, geschminkt und mit modischen Sonnenbrillen auf die Taliban zugehen und unbequeme Frage stellen. (Stephan Brändle, 21.9.2021)