Blick auf das Osloer Hotel Bristol in den 1930er-Jahren. Hier verfasste Hans Ferdinand Mayer im November 1939 jenen als "Oslo-Report" bekannt gewordenen Bericht, in dem er Großbritannien vor neuen deutschen Waffensystemen warnte und die Ziele militärischer Forschungsprogramme umriss.
Foto: Anders B. Wilse/Oslo Museum

An seinem dritten Tag in Oslo wird aus einer mutigen Idee gefährlicher Ernst. Die prunkvolle Lobby ist nahezu menschenleer, als Hans Ferdinand Mayer ins Hotel Bristol zurückkehrt. Der Portier lässt sich nicht lange bitten: Schnell hat er eine Schreibmaschine organisiert, die Mayer mit auf sein Zimmer nehmen kann.

Es ist Mittwoch, der 1. November 1939. Vor genau zwei Monaten hat Nazideutschland Polen überfallen und Europa in einen neuen Krieg gestürzt. Mayers über die Jahre gewachsene Abneigung gegen das nationalsozialistische Regime ist inzwischen in Hass umgeschlagen, die Ohnmacht einem Gefühl der Entschlossenheit gewichen. "Ich musste gegen den Teufel kämpfen", schrieb er später, "ich musste ihm so viel Schaden zufügen wie möglich." Noch an diesem Abend will er zum ersten Schlag ausholen.

In seinem Zimmer angekommen, setzt sich Mayer an den Schreibtisch. Er will alles möglichst detailliert und strukturiert zu Papier bringen, was er in Erfahrung gebracht hat. Auffliegen darf er nicht – er ist schon einmal von der Gestapo verhaftet worden und weiß nur zu gut, wie die Nazis selbst mit harmlosen Gegnern umgehen. Was einem Landesverräter droht, will er sich lieber nicht vorstellen.

Experimentelle Waffen

Er zieht seine Lederhandschuhe an, um Fingerabdrücke zu vermeiden, ehe er das erste Blatt Papier in die Schreibmaschine einspannt und tippt: "1. Ju 88 Programm. Ju 88 ist ein zweimotoriger Langstreckenbomber und hat den Vorteil, dass er auch als Sturzbomber verwendet werden kann. Es werden im Monat mehrere Tausend, wahrscheinlich 5000 hergestellt. Bis April 40 sollen 25.000–30.000 Bomber allein von dieser Sorte fertiggestellt sein. 2. Franken. Im Hafen von Kiel liegt das erste deutsche Flugzeugmutterschiff. Es soll bis April 40 fertiggestellt sein und heißt ‚Franken‘. 3. Ferngesteuerte Gleiter. Die Kriegsmarine entwickelt ferngesteuerte Gleiter, das sind kleine Flugzeuge von etwa drei Metern Spannweite und drei Metern Länge, die eine große Sprengladung tragen. Die Geheimnummer ist FZ 21. Die Erprobungsstelle ist in Peenemünde, an der Mündung der Peene, bei Wolgast in der Nähe von Greifswald."

Hans Ferdinand Mayer (1895–1980), der lange Zeit unbekannte Autor des Oslo-Reports, gewann durch seine Arbeit in der Elektroindustrie Einblicke in deutsche Rüstungsgeheimnisse.
Foto: Siemens Historical Institute

Wieder mit Handschuhen steckt er die beschriebenen Seiten umständlich in ein Kuvert. Er will die Papiere gleich loswerden – es ist kein angenehmes Gefühl, sie bei sich zu haben. Er hat lange darüber nachgedacht, wie er sie am besten weiterleiten könnte. Letztlich erscheint ihm die nächstliegende Variante am wenigsten riskant: per Post. Morgen würde er den zweiten Teil schreiben und gesondert aufgeben. Das würde die Chance erhöhen, dass zumindest ein Teil der Informationen das Ziel erreicht. Die Adresse steht im Telefonbuch: Storbritannia og Nord-Irlands ambassade i Oslo, Drammensveien 79.

Fanatischer Nobelpreisträger

Mayer will den Brief nicht aus dem Hotel abschicken. Es ist schon dunkel, als er in die Kälte tritt. Nur wenige Schritte entfernt liegt die Karl Johans gate, die zentrale Prachtstraße der Osloer Innenstadt, die vom Ostbahnhof direkt zum königlichen Schloss führt – zur offiziellen Residenz der norwegischen Königsfamilie.

David Rennert, "Der Oslo-Report. Wie ein deutscher Physiker die geheimen Pläne der Nazis verriet". € 24,– / 208 Seiten. Residenz-Verlag, Wien 2021
Cover: Residenz Verlag

Dass in Deutschland längst Pläne für den Überfall auf seine nördlichen Nachbarstaaten gewälzt werden, weiß Mayer nicht. Schon in wenigen Monaten wird Norwegen unter deutscher Besatzung stehen, der König ins britische Exil flüchten und das Schloss zum Hauptquartier des "Reichskommissars für die besetzten norwegischen Gebiete" umfunktioniert werden. Aber noch wird es von norwegischen Soldaten bewacht.

Mayer wirft das Kuvert in einen Briefkasten und spaziert zurück zum Hotel. In seinem Zimmer setzt er sich aufs Bett und streicht mit der Hand über die langen Narben, die sich über seine linke Wange ziehen. Wie ein anderes Leben erscheinen ihm die Tage, als er beim Mensur-Fechten in Heidelberg die Klinge zu spüren bekommen und selbst anderen Burschenschaftlern die jungen Gesichter zerschnitten hat. Als er beim großen Philipp Lenard, dem Physiknobelpreisträger von 1905, studierte. Wie stolz er damals war.

Heute ist Lenard ein besessener Nationalsozialist, der versucht, den antisemitischen Rassenwahn des "neuen Deutschlands" in die Naturwissenschaften einzuschreiben, der von einer "arischen Physik" fantasiert. Und er, Mayer, sein ehemaliger Musterstudent und Assistent, sitzt in einem Hotel in Norwegen und ist dabei, Deutschland an jene zu verraten, gegen die er im Ersten Weltkrieg noch gekämpft hat. Wie schnell sich die Zeiten doch ändern können.

Bestätigung per Radio

Am nächsten Tag setzt sich Mayer wieder an die Schreibmaschine. "10. Torpedos. Die deutsche Marine hat zwei neue Arten von Torpedos. Man will zum Beispiel Konvois von zehn Kilometern Entfernung aus angreifen. Solche Torpedos haben einen drahtlosen Empfänger, der drei Signale empfangen kann. Mit diesen Signalen kann man von dem Schiff, welches das Torpedo geschossen hat, oder von einem Flugzeug aus, das Torpedo nach links, nach rechts oder geradeaus steuern. Es werden lange Wellen verwendet, die gut in das Wasser eindringen …"

Nachdem die letzte Seite fertig beschrieben ist, lehnt sich Mayer zurück. "Der zweite Brief war eine Fortsetzung des ersten, und gemeinsam gaben sie einen ziemlich vollständigen Überblick über die Vorhaben der Nazis hinsichtlich geheimer Waffen zu diesem Zeitpunkt", erinnert er sich später. Um in Erfahrung bringen zu können, ob sein ‚Oslo-Report‘ die richtigen Stellen in England erreichen würde, bittet er um eine versteckte Empfangsbestätigung aus London: Die Ansage der deutschsprachigen Abendnachrichten der BBC solle am 20. November 1939 um 20 Uhr geringfügig geändert werden: Anstatt mit den üblichen Worten "Hello, this is London calling" solle der Sprecher mit "Hello, hello, this is London calling" beginnen.

Als die brisante Post wenig später in der britischen Botschaft in Oslo eintrifft, ist Mayer schon wieder auf dem Rückweg nach Berlin. Dass er in Oslo sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, ist ihm bewusst. Es war nicht das erste Risiko, das er in den vergangenen Jahren eingegangen ist. Was ihm in Deutschland bevorsteht, würde er trotzdem nicht für möglich halten. (David Rennert, 21.9.2021)