Obstbau ist für Pilze, Bakterien und Insekten ein gefundenes Fressen. Chemie ist daher ein ständiger Begleiter.

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Wien – Apfelbäume, so weit das Auge reicht. Jedes Frühjahr hüllen sie Puch bei Weiz mit zartrosa Blütenwolken ein. Auf mehr als 600 Hektar baut die kleine Gemeinde im oststeirischen Hügelland Obst an. Der Apfel ist auf ihrem Ortswappen verewigt und seit Generationen größter Arbeitgeber der Region.

Doch jedes Frühjahr erfüllt nicht nur der Duft blühender Gärten das idyllische Dorf. Ätzender, beißender Geruch, der an Schuhputzmittel erinnert, zieht von den umliegenden Plantagen durch die Ortschaft und frisst sich in den Häusern fest.

Die Fenster zu schließen helfe nur bedingt, erzählt ein Gemeindebürger, an Spazierengehen sei nicht zu denken. Zwischen zehn- bis 20-mal im Jahr werden Obstbäume Angaben der Landwirte zufolge gegen Bakterien und Pilze, Fressfeinde und Unkraut chemisch behandelt. Je nach Witterung, Höhenlage und Sorte in unterschiedlicher Intensität.

Gefährliche Abdrift

Dass ein Teil der Spritzmittel im Zuge der Abdrift und Verdunstung übers Ziel hinausschießt, sei jedem hier klar, sagt der Steirer, dessen Haus an die Plantagen angrenzt. "Mit einem eigenen Garten tut man sich in Puch sicher nichts Gutes." Das Ausmaß der Kontamination mit Pflanzenschutzmitteln im Inneren seiner Wohnräume habe ihn dennoch schockiert.

Einen Mix aus zwölf Pestiziden haben Forscher im Sommer in seinem Hausstaub nachgewiesen. Zwei davon gelten in den USA als möglicherweise krebserregend.

Hausstaub im Labor

Chemie aus der Landwirtschaft, die weit über ihren Bestimmungsort hinaus wirkt, ist nichts Neues. 2019 sorgten etwa mit Spritzmitteln belastete öffentliche Kinderspielplätze in Südtirol für Unruhe. Nun hat die europäische Bürgerinitiative "Biene und Bauern retten", die von internationalen NGO-Organisationen getragen wird, einen Blick in Schlafzimmer von Europäern geworfen, die in intensiv landwirtschaftlich genutzten Gebieten leben.

In 21 privaten Haushalten aus 21 EU-Staaten wurden im Juni und Juli Staubproben gezogen. Alle Proben waren mit Pestiziden belastet – im Schnitt mit acht, maximal mit 23 Wirkstoffen, zeigt die dem STANDARD vorliegende Studie. Jede vierte Schlafzimmerprobe, die ein französisches Labor analysierte, enthielt Pestizide, die von der Europäischen Chemikalienagentur ECHA als möglicherweise krebserregend eingestuft wurden.

In 80 Prozent der Stichproben waren Wirkstoffe nachweisbar, die im Verdacht stehen, die menschliche Fortpflanzung zu schädigen. Der höchste ausgewiesene Wert stammt aus Belgien. Österreich rangiert mit der Probe aus Puch an dritter Stelle.

"Hohe Gesundheitsrisiken"

Zahlreiche epidemiologische Studien zeigten, dass Menschen, die von intensiver Landwirtschaft umgeben sind, einem doppelt so hohen Risiken ausgesetzt sind, an Krebs zu erkranken oder Fehlgeburten zu erleiden, als Menschen in Stadtgebieten, warnt Helmut Burtscher. Der Umweltchemiker der Organisation Global 2000, Mitinitiator und Autor der Studie, fordert, dass Pflanzenschutzmitteln mit negativen gesundheitlichen Folgen die Marktzulassung entzogen gehört – zumal viele Bauern damit auch ein hohes persönliches Risiko eingingen.

Burtscher vermisst in Österreich Untersuchungen staatlicher Aufsichtsbehörden zum Ausmaß der Abdrift von Pestiziden und ihren möglichen gesundheitlichen Gefahren. "Die Verantwortlichkeit endet offenbar mit der Zulassung."

Es sei inakzeptabel, dass Menschen in ihren Wohnräumen einem Pestizidcocktail ausgesetzt seien, ergänzt Martin Dermine vom Pesticide Action Network. Statt chemieintensive Landwirtschaft in der EU zu subventionieren, gehöre die Forschung von umweltfreundlichen Alternativen finanziell gestärkt.

Keine Grenzwerte

450 Wirkstoffe sind für die Landwirtschaft in der EU derzeit zugelassen. Untersucht wurden die Schlafzimmerproben aus Kostengründen nur auf 30. Tatsächlich hätten sich darin wohl doppelt so viele gefunden, vermutet Burtscher. Auch Glyphosat, das dazu dient, Wiesen unter den Obstbäumen von Unkraut freizuhalten, und das sich über die Luft gut verbreitet, sei den Forschern damit durch die Lappen gegangen.

Anders als für Lebensmittel gibt es für Hausstaub keine Grenzwerte. Am häufigsten wies das Labor Pyraclostrobin, Spiroxamine und Fluopyram nach.

Bestätigt sich eine bedenkliche Konzentration an Wirkstoffen, müsse sich die Behörde der Sache annehmen, sagt Christian Stockmar. Von "unseriöser Angstmache" hält der Chef der Syngenta und Obmann der Industriegruppe Pflanzenschutz allerdings wenig: "Pflanzenschutzmittel sind die am besten untersuchten Substanzen."

"Kirche im Dorf lassen"

Hochsensible Analysemethoden erlaubten mittlerweile, alles zu finden, wonach gesucht werde. In der Regel sei die Belastung mit Wirkstoffen so gering, dass sie umwelt- und humantoxisch gesehen, irrelevant sei. "Wir müssen die Kirche im Dorf lassen."

Er wolle nichts schönreden, sagt Stockmar. Aber er appelliere an Respekt vor der Wissenschaft. Ziel sei es bei Themen wie diesen, gemeinsam Lösungen zu finden.

An Möglichkeiten, das Problem der Abdrift besser in den Griff zu bekommen, fehlt es aus Sicht von Fritz Prem, des Präsidenten des europäischen Bioobst-Forums, nicht. Es gebe bereits serienreife Applikationsmethoden, die diese um 90 Prozent reduzieren. Allein, man schreibe sie in Österreich nicht gesetzlich vor. "Dabei wäre dies ein großer Schritt nach vorne."

"Ein Teufelskreis"

Verzichtbar seien wirksame Pestizide für konventionelle Betriebe über Nacht aber nicht – außer man nehme erhebliche Einbußen in Kauf und gleiche diese durch höhere Preise aus. Er selbst habe 20 Jahre lang konventionell produziert, ehe er vor 25 Jahren auf Bio umsattelte: Noch mehr Kosten einzusparen als bisher schon sei im Obstbau aufgrund der knappen Kalkulationen nicht mehr möglich. "Es ist ein Teufelskreis."

Verantwortung dafür tragen vor allem Konsumenten, die auf perfektem, makellosem Obst bestehen, ist der betroffene Anrainer aus Puch überzeugt. Zwar wollten immer mehr Betriebe auf biologischen Anbau umstellen. Doch solange der Nachbar seine Flächen weiterhin mit Chemie behandle, sei vielen der Umstieg aufgrund der Abdrift zu riskant.

Mit offenem Verdeck spritzten die Bauern am Traktor dreimal die Woche vor seiner Haustür, sagt er und berichtet von vermehrten Krebserkrankungen in der Region. Der örtliche Supermarkt verkaufe regelmäßig Äpfel aus Afrika – ansässige Betriebe exportierten ins Ausland. "Hier läuft doch etwas schief." (Verena Kainrath, 20.9.2021)