Die Verhaftungsaktion war ebenso gut vorbereitet wie der vorangegangene Gefängnisausbruch – und hinterließ in Jenin Spuren.

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Jede Hausmauer erzählt eine Geschichte, und es ist keine, die man zum Einschlafen hören möchte. Einschusslöcher, Granatennarben, aufgeklebte und aufgemalte Porträts von grimmig dreinschauenden Männern und Buben, die entweder tot sind oder getötet haben, oft auch beides. Im Flüchtlingslager Jenin, rund 30 Kilometer entfernt von Nazareth, ist der Alltag ein Kampf, und der Kampf ist Alltag. Fast jeden Tag fallen Schüsse.

Auch in der Nacht auf Sonntag. Israelische Soldaten tauchten vor einem Wohnhaus in Jenin auf und begannen eine penibel vorbereitete Operation, die nach Plan verlief: Zwei Gefängnisausbrecher wurden gefasst. Es handelte sich um jene zwei von Israel als Terroristen geführte Männer, die nach dem spektakulären Ausbruch aus dem Hochsicherheitsgefängnis Gilboa vor zwei Wochen immer noch auf der Flucht gewesen waren. Die übrigen vier Männer waren bereits zuvor gefasst worden.

Jubel beim Premier

"Es ist vollbracht", jubelte Israels Regierungschef Naftali Bennett anlässlich der Festnahme. Der Gefängnisausbruch hatte das Land unter Schock versetzt. Es war eine Panne, die die Brüche in Israels Sicherheitsarchitektur offenbarte. Und eine, die Ängste weckte: Sechs Männer, teilweise wegen mehrfacher Terrorakte zu lebenslanger Haft verurteilt, waren auf freiem Fuß – und womöglich schon dabei, neue Anschläge zu planen. Als es am Sonntag gelungen war, sie aufzugreifen, war die Erleichterung groß.

Ganz anders hier im Flüchtlingslager Jenin mit seinen 16.000 Einwohnern, allesamt Nachkommen von Palästinensern, die 1948 ihre Häuser in Israel verloren hatten. Alle sechs Ausbrecher stammen aus Jenin. Plakate mit den Gesichtern der sechs Ausbrecher hängen hier an allen Ecken, Logo der Terrororganisation Islamischer Jihad inklusive. "Es macht mich traurig, dass sie wieder in Haft sind", sagt die 33-jährige Nidar. "Der Ausbruch hat mich froh gemacht", erklärt die vierfache Mutter. "Er hat mir Hoffnung gegeben, dass sich etwas ändert."

Viele Familien betroffen

Nidars jüngster Sohn klammert sich mit an ihren Rock, in der anderen Hand hält er einen halb geschmolzenen Schokoriegel, an dem er nuckelt. "Keine Mutter will, dass ihr Kind stirbt oder hinter Gittern landet", sagt Nidar. Sie rechne trotzdem damit, dass es passieren kann.

Jeder, mit dem man im Lager spricht, hat eine Gefängnisgeschichte zu erzählen. "Zwei meiner jüngeren Brüder sitzen gerade ein", sagt Iyad, während er einen Hosenstapel zurechtrückt. Der 24-Jährige besitzt einen Laden für Markenkleidung und zählt damit im Flüchtlingslager zur Minderheit der Menschen, die nicht auf Jobsuche sind. Die Brüder seien zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden, weil sie mit Steinen auf israelische Soldaten schossen.

"Als die Nachricht vom Gefängnisausbruch kam, waren wir alle extrem aufgeregt", sagt Iyad. "Damals wussten wir ja keine Namen. Und jede Familie hoffte, dass es einer von ihnen ist."

Bei einem erfüllte sich die Hoffnung. Yehiya Zubeidi sagt, er sei "überglücklich" gewesen, als er erfuhr, dass sein Bruder Zakariya sich unter den sechs gesuchten Häftlingen befand. Zakariya Zubeidi ist der frühere Kommandant der Al-Aksa-Märtyrerbrigaden und der prominenteste der sechs Ausbrecher.

Er war nach mehrjähriger Haft in Israel in einer Amnestie gegen Auflagen entlassen worden und galt als Musterbeispiel der Wandlung vom Terroristen zum waffenabstinenten Aktivisten. Später aber widerrief Israel die Amnestie. Und in dem kleinen, dunklen Raum im Flüchtlingslager, in dem sein Bruder Besucher empfängt, ist ein kleiner Altar für Zakariya eingerichtet – mit einem Bild, das den 45-Jährigen kampfbereit und mit Sturmgewehr zeigt.

"Zu allem bereit"

Während der Bruder sich wieder hinter Gittern befindet, erhält Yehiya viel Besuch. Am Tag nach der Festnahme ist eine Delegation der Palästinenserbehörde hier, quasi zum Kondolenzbesuch. Offiziell arbeitet Ramallah mit Israel zusammen, um Terroristen zu verfolgen. Gleichzeitig weiß man um die Popularität, die Zakariya in Jenin genießt.

Er gilt als Freiheitskämpfer, während Palästinenserpräsident Mahmud Abbas als Kollaborateur mit dem Besatzer Israel gesehen wird. Es geht aber auch um Risikobegrenzung: Wenn es wieder eine Intifada gibt, dann wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit von Jenin ausgehen.

Yehiya Zubeidi bestreitet das nicht. "Es liegt in der Natur der Menschen von Jenin. Sie sind geboren, um frei zu sein. Um sich von ihren Besatzern zu befreien, sind sie zu allem bereit." (Maria Sterkl aus Jenin, 21.9.2021)