Es ist ein klassischer Dominoeffekt: Wegen des beispiellosen Anstiegs der Gaspreise gehen den Briten womöglich bald das Frischfleisch und andere Produkte aus. Der Grund: Es fehlt an Kohlendioxid. Der Lagerbestand des in der Lebensmittelindustrie weitläufig eingesetzten Gases soll in weniger als zwei Wochen auslaufen. Große Supermarktketten überbieten sich zurzeit gegenseitig darin, sich die verbliebenen Vorräte an CO2 zu sichern.

Aus verschiedenen Gründen – stärkere Nachfrage in Europa, reduzierte russische Lieferungen und größere Transportkosten für Flüssiggas – ist der Preis für Erdgas in den letzten Wochen in die Höhe geschossen. Für die Düngemittelindustrie hat das ernste Konsequenzen, denn bei der Herstellung wird Erdgas intensiv eingesetzt. Wegen der gestiegenen Kosten hat der US-Hersteller CF Industries zwei seiner Fabriken in Großbritannien unerwartet geschlossen. Das Problem für die Briten: Mit den Werksschließungen hat CF Industries gleich 60 Prozent der britischen Versorgung mit Kohlendioxid vom Markt genommen. Denn das Klimagas ist ein Nebenprodukt der Ammoniakproduktion.

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Frischfleisch könnte schon bald Mangelware in Großbritannien werden.
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Engpässe bei Trockeneis

Der Fleischproduzentenverband British Meat Proccesors Association (BMPA) schlägt Alarm. Kohlendioxid wird in Schlachtereien eingesetzt, um Tiere vor der Schlachtung zu betäuben und ihr Fleisch hinterher vakuumdicht zu verpacken. Wenn Schlachthöfe kein CO2 haben, müssen sie Tiere zurückweisen, und das führt zu einem Rückstau bis auf die Bauernhöfe. "Diese Situation", sagte BMPA-Chef Nick Allen, "gibt es schon bei Schweinefleischproduzenten, dort steht eine Keulung auf einigen Farmen kurz bevor."

Es trifft nicht nur die Fleischindustrie. CO2 wird auf breiter Front eingesetzt. Kohlendioxid in fester Form ist Trockeneis und wird zum Beispiel für den Transport gefrorener Produkte gebraucht. Der Onlinelieferant Ocado warnte auf seiner Webseite, dass man ab sofort nur begrenzt fähig sei, Tiefkühlkost zu liefern, "wegen eines landesweiten Mangels an Trockeneis". CO2 dient darüber hinaus zur Verlängerung der Haltbarkeit von Lebensmitteln wie Brot, ist zentral bei der Produktion von kohlensäurehaltigen Getränken und treibt das Bier aus den Fässern in den Zapfhahn. Engpässe in diesen Bereichen dürften schnell zu einem Aufschrei der Öffentlichkeit führen.

Zwei Bier oder nicht zwei Bier – das ist die Frage. Zumindest solange es genug Bier im Land gibt.
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Sonstige Nachschubprobleme

Der Wirtschaftsminister Kwasi Karteng führte über das Wochenende Krisengespräche. Doch die Verhandlungen mit Tony Will, dem Geschäftsführer von CF Industries, der aus den USA eingeflogen war, führten bisher nicht zu dem erwünschten Ergebnis, dass die beiden Produktionsstätten in Nordengland schleunigst wieder geöffnet werden. Eine alternative Lösung wäre die Beschaffung von Kohlendioxid aus dem Ausland, doch da sieht man nur begrenzt Möglichkeiten.

Der CO2-Mangel in Großbritannien kommt zu einer Zeit, in der das Land schon von anderen Nachschubproblemen getroffen wird. Aufgrund des Brexits und der Pandemie gibt es zurzeit einen krassen Personalmangel, man verzeichnete kürzlich die Rekordzahl von mehr als einer Million offenen Stellen. Besonders im Speditionswesen fehlen die Leute.

In Großbritannien fehlt es wegen des Brexits auch an Lkw-Fahrern.
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Andrew Opie vom Einzelhandelsverband British Retail Consortium sagte, dass die Kohlendioxidkrise "zu keiner schlimmeren Zeit hätte kommen können, wenn uns 90.000 Lkw-Fahrer fehlen und dies massiven Druck auf die Lebensmittelproduktion und den Vertrieb ausübt. Die Regierung muss dieses Problem so schnell wie möglich angehen und mit der Industrie zusammenarbeiten, um eine schnelle Lösung zu finden, damit die Situation nicht weiter eskaliert." (Jochen Wittmann aus London, 21.9.2021)