Ein Einkaufszentrum mitten in Wien. Es ist Hochsommer. Wir treffen Raf Camora im Büro des Managers einer Elektrofachkette. Kalter Zigarettenrauch hängt in der Luft und in den Vorhängen. Der Raum ist zweckmäßig, nüchtern eingerichtet, das Mobiliar etwas abgegriffen.

Raf Camora nimmt an dem kleinen Konferenztisch Tisch Platz, fingert sich eine Zigarette – weiß, lang, dünn – aus der Schachtel. "Darf ich?", fragt er rücksichtsvoll. Klar. Das entspannt, wie wir Ex-Raucher wissen. Kurz zuvor hat er sich noch mit dem neuesten Produkt ablichten lassen, das seinen Namen trägt: sündteure Kopfhörer des High-End-Anbieters Bang & Olufsen. Er schätze deren gut austarierten Sound, erklärt er. Ein bisschen Promo muss schon sein.

Wäre nicht die Entourage rund um den groß gewachsenen, flächig tätowierten Mann mit schwarzem Basecap über Kurzhaarfrisur, dunklem Shirt, Goldketterl, Jeans, Sneakers gewesen. Hätte nicht die eine oder andere Mama im Schlepptau ihres halbwüchsigen Sohnes ein Handyfoto mit ihrem Sprössling und dessen Idol schießen müssen, man hätte ihn mit dem hippen Verkäufer vom Turnschuhladen gegenüber verwechseln können.

Megaerfolgreich

Dabei ist Raphael Ragucci, wie er bürgerlich heißt, ein Superstar. Megaerfolgreich trifft’s. Sein Genre: Gangster-Rap deutscher Zunge. Die harte Spielart des Hip-Hop, weitab der poppigen Variante à la Die Fantastischen Vier oder der Beginner. Amtlich gibt es Gangster-Rap in Deutschland seit 2003, als das einschlägige Label Aggro Berlin gegründet wurde. Er hat längst die Jugendzimmer im deutschen Sprachraum erobert.

Raf Camora, bürgerlich Raphael Ragucci, ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Gangster-Rapper.
Foto: Bang & Olufsen

Camoras Songs werden auf Spotify milliardenfach gestreamt, die Zugriffe auf seinem Youtube-Kanal gehen in die hundert Millionen, seine Alben haben Gold-, Platin- und Diamantstatus, auf Instagram folgen ihm knapp zwei Millionen Fans. Allein 2019 soll er über 20 Millionen Euro verdient haben.

Kunstfigur

Aber mit wem sprechen wir hier heute: Raphael oder Raf? "Das ist die große Frage", sinniert der Rapper. "Als ich begonnen habe zu rappen, habe ich mir nicht gleich eine Kunstfigur zugelegt. Das hat man früher nicht so gemacht. Heute ist das anders. Früher hat man das repräsentiert, was man ist." Das Image komme vielfach über die Songs, meint er. "Was Raf Camora, den Rapper, angeht: Er wurde genauso von mir erschaffen wie vom Publikum."

Politik, Rassismus und Religion: Bei diesen Themen zieht Raf Camora eine rote Linie. Der Sexismus im Hip-Hop werde sich abschleifen, meint er.
Foto: Markus Mansi / BOBB¥S Agency

Raphael Ragucci sei mehr Businessman als Raf Camora, der Rapper. Aber: Raf stecke zu 100 Prozent in Raphael. "Ich brauch niemandem etwas vorzumachen. Raf ist ein Teil von mir, kein Alter Ego. Natürlich gibt es Seiten an mir, die mit Raf Camora nichts zu tun haben. Ich brauche nicht darüber zu rappen, wie ich mir die Zähne putze."

Es sei wie bei jeder Kunstform: Es geht um die großen Motive – Sex, Tod, Liebe, Drogen, Gewalt –, emotional aufgeladene Themen. Zahnhygiene gehöre nicht dazu. Zähneputzen und Business, das sei Raphael Ragucci.

Auf der Straße

Was gefällt den Mittelschicht-Fridays-for-Future-Kids an dieser Art von Musik? Von der nicht nur der Schauspieler Murathan Muslu, der schon mit Raf Camora zusammengearbeitet hat, behauptet: "Jemand aus der Bürowelt kennt die Regeln des Raps nicht. Rap ist für Leute im Ghetto." Raf Camora: "Es sind nicht nur die Kids aus der Mittelschicht, die meine Konzerte besuchen. Alle feiern die Musik, weil sie sehr vielfältig ist. Du kannst mit Rap alles ausdrücken, jede Stimmung – nachdenklich, aggressiv, ruhig. Für jeden Typ gibt’s mittlerweile den passenden Rapstil."

Aber ja, der Ursprung des Rap sei auf der Straße zu finden. Dort findet sich der Nährboden des Gangster-Rap: Migration, Entwurzelung, schwere Kindheit, Entfremdung, Gewalt, Drogen, Armut … jene Mixtur, die in diesem Geschäft als "real", also authentisch gilt. Und die Raf Camora – zumindest zum Teil – mitbringt.

Kurz war Raf Camora davor, die Musik ganz sein zu lassen. Im Juli kam er überraschend mit neuem Album zurück.
Foto: Bang & Olufsen

Raphael Ragucci wird in der französischsprachigen Schweiz als Sohn einer Italienerin und eines Österreichers geboren. Bereits mit vier macht er Musik, er spielt Geige. Als er sechs Jahre alt ist, übersiedelt die Familie nach Rudolfsheim-Fünfhaus. Schon damals ist der 15. Wiener Gemeindebezirk einer der ärmsten Österreichs mit hohem "Ausländeranteil". Der kleine Raphael wuchs unter Bosniern, Kroaten, Serben auf – vielfach Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, wo in den 1990ern der Bürgerkrieg tobte.

Musik als Anker

Der Vater studierte, die Mutter machte eine Ausbildung zur Opernsängerin. Er jobbte auf der Baustelle, sie gab Französischunterricht, um die Familie über Wasser zu halten. In dieser Umgebung, erzählte Ragucci einmal, habe er sich oft verloren gefühlt. Hin und her gerissen zwischen Italienisch, Französisch, Deutsch Wiener Prägung, die Großeltern Analphabeten. Die Musik war sein Anker und sein Rettungsboot. Er hörte damals noch Punk, Grunge, Metal. Begann sich dann dem Hip-Hop zuzuwenden.

Mit Fünfhaus ist er bis heute verbunden. Ragucci kehrt immer wieder zurück, unterstützt Kulturprojekte im Bezirk mit erklecklichen Summen. Er fühle sich in Wien zu Hause, mehr denn je. Und das, obwohl er seine atemberaubende Karriere nicht hier, sondern in Berlin startete.

Raf Camora und Bonez MC bei ihrem Auftritt am "Frequency" 2018.
Foto: APA/HERBERT P. OCZERET

Dorthin riss er als Jugendlicher aus, machte Musik, lebte von der Hand in den Mund, aber hatte das Glück, die richtigen Leute zu treffen – allen voran den Rapper Bonez MC, Teil des übel beleumundeten, aber nichtsdestotrotz sehr erfolgreichen Rap-Kollektivs 187 Straßenbande. Denen musste er erst mal ein paar wienerische Ausdrücke beibringen, erinnert sich der Rapper, Tschick zum Beispiel. Gemeinsam mit Bonez MC erfand er quasi den deutschen Dancehall, wie manch ein Auskenner sagt.

Teure Uhren, schnelle Sportwagen, das ging sich mit den ersten Erlösen gut aus. Musik allein macht einen Rapper aber nicht unbedingt reich. Das hat Businessman Ragucci, wie seine Rap-Vorbilder und Dollarmilliardäre Dr. Dre oder Jay-Z vor ihm, schnell begriffen, oder wie er es einmal ausdrückte: "Auf eine Goldene Schallplatte an der Wand kann ich mir keinen runterholen." Er beschreibt sich gerne als Arbeitstier und sei immer auf der Suche nach neuen Geschäftsfeldern.

Kunst kommerziell

Mit Karneval brachte er gemeinsam mit Bonez eine eigene Wodkamarke auf den Markt, er hat mit Corbo eine Fashionbrand, die es nun auch bei Zalando gibt, investiert in Immobilien, hat eine Künstleragentur gegründet, betreibt einen Barbershop in Wien, der gleichzeitig ein Tattoostudio ist … Überhaupt: "Das Sidebusiness ist das neue Statussymbol im Hip-Hop."

Einer Musikrichtung, die, getreu dem Motto von 50 Cent "Get rich or die tryin’", vor allem am kommerziellen Erfolg gemessen wird. "Wenn du vor 500 Leuten spielst, bist du ein Loser", hält Ragucci fest. Da können einen die Kritiker noch so lieben. "Wenn du ein Stadion vollmachst, dann bist du der King."

Der Druck war so gewaltig, schildert Ragucci, dass er nicht mehr mit Hip-Hop weitermachen wollte. "Fulltime-Job trifft es nicht einmal annähernd." Sein Album Zenit aus dem Jahr 2019 sollte sein letztes sein. Auf dem Olymp angekommen, gab es für ihn keine Ziele mehr. Er hatte genug von dem Zirkus, hatte sich von seiner Liebe, der Musik, entfremdet, wie er es ausdrückt. Die Pandemie, der Tod seines Großvaters haben ihn zusätzlich mitgenommen. Der Deutschrapper sehnte sich nach Normalität. Oder wie es bei der Konkurrenz in Form von Bushido so treffend heißt: "Zeiten ändern dich."

Mode, Getränke, Musik: Der Rapper ist ein Multiunternehmer.
Foto: Markus Mansi / BOBB¥S Agency

Eine selbsttherapeutische Autobiografie ("Der Pakt"), eine Auszeit in Dubai, eine Corona-Erkrankung später wagte er mit dem Album "Zukunft", in dem er diese Zeit verarbeitet, heuer überraschend das Comeback. (Am Wiener Westbahnhof prangte ein Plakat mit "Raf Camora lebt"-Spruch.) "Ich hasse dieses Wort: Ich wollte mich immer davor hüten, in diese Situation zu kommen. Aber ja, es ist ein Comeback, ein Zurückkommen nach zwei Jahren."

Und: Er würde nie wieder die Finger von der Musik lassen. Frühpensionist mit 37, das wäre auch stark übertrieben. "Zukunft" jedenfalls ging nach dem Release über sein eigenes Plattenlabel in Österreich, Deutschland und der Schweiz auf Platz 1 in den Charts.

Bürgerliches Klischee

Gibt es Lieder, die ihm heute peinlich sind? Einige, bekennt er. Auf keinen Fall will er deren Titel nennen, er habe sie allesamt von Spotify löschen lassen. Rote Linien zieht er bei Themen wie Politik, Rassismus und Religion: "Meine Freiheit endet dort, wo die eines anderen beginnt", sagt Ragucci.

Auch wenn es abgedroschen klinge. Er würde seinen "definierten Körper" nie mit dem eines Holocaust-Opfers vergleichen, wie es Gangster-Kollege Farid Bang tat. Der hatte damit 2018 einen veritablen Skandal ausgelöst und musste sich dafür mehrfach entschuldigen.

Aber das Frauenbild im Gangster-Rap stinkt doch nur so nach Sexismus, es wimmelt nur so von Schlampen, Huren, Bitches. Nicht zuletzt hat die MeToo-Debatte jüngst auch den deutschen Hip-Hop erreicht. Ragucci bedauert das, und man nimmt es ihm ab. Er wirkt während des ganzen Gesprächs sehr reflektiert, wägt seine Antworten ab. Er entspricht nicht dem bürgerlichen Klischee vom dumpfen, aggressionsgeladenen Gangster.

Vorsätzlich missverstanden

Zum Thema Frauenbild meint er: "Ich denke, das wird sich einpendeln. Sachen, die übertrieben sind, werden sich langsam abschleifen. Man merkt das jetzt schon im Deutschrap." Ein James-Bond-Streifen aus den 1960ern beispielsweise sei "sexuelle Belästigung auf Spielfilmlänge" gewesen, gab er in einem Interview im "GQ" zu Protokoll: "Die Sensibilität war damals nicht da. Aber irgendjemand hat das ja durchgewinkt. Genauso sehe ich es im Rap auch."

Er mache seine Musik nicht, um zu provozieren – zumindest nicht vordergründig. Wenn er über Drogen rappt, dann werde das oft vorsätzlich missverstanden. Der Song "Kokain" zum Beispiel sei ein Antidrogensong, denn in diesem geht’s ums Verkaufen und nicht ums Konsumieren. Überhaupt: Kokain sei scheiße. Er selbst hasse es, die Kontrolle zu verlieren.

"Sex, Essen, Lachen, Dinge, die ich gerne mache, gehen auf Koks überhaupt nicht", hält Ragucci fest. Also gar keine Drogen? Wenn, dann bevorzuge er Haschisch. Das beruhige ihn. "Auf Hasch kann ich runterkommen und gut einschlafen." Wie proklamierten schon Tocotronic: Pure Vernunft darf niemals siegen! (Markus Böhm, RONDO, 23.9.2021)