Gregor Schlierenzauer ist die Entscheidung nicht leichtgefallen.

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Der Tiroler feierte im März 2006 in Oslo sein Weltcupdebüt und sprang auf Anhieb als 24. in die Punkteränge. Bereits im Dezember 2006 gewann er in Lillehammer sein erstes Weltcupspringen, im Dezember 2014 ebendort sein letztes.

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Wien – In einer anderen Welt, in einer anderen Zeit hätte der Österreichische Skiverband (ÖSV) den schönsten Saal in Innsbruck angemietet. Die Wiener Hofburg wäre alternativ angedacht gewesen. Ex-Präsident Peter Schröcksnadel wäre gewiss erschienen. Und Skispringer Gregor Schlierenzauer wäre ein letztes Mal öffentlich aufgetreten. Vor einer Journalistenschar und live auf ORF Sport+. Der 31-jährige Tiroler hätte sich die Zeit genommen, alle Fragen zu beantworten.

Die Realität war eine andere. Am 21. September 2021 um circa zehn Uhr schrieb er in seinem Internet-Blog: "Meine aktive Karriere zu beenden ist mir nach all dem, was ich als Spitzensportler erleben durfte, nicht leichtgefallen. Aber die Entscheidung fühlt sich ebenso wie der Zeitpunkt richtig an. Die letzten Monate waren für mich herausfordernd. In positiver Hinsicht. Durch die Verletzungspause hatte ich ausreichend Zeit und den nötigen Abstand, um Vergangenes aufzuarbeiten und zu schauen, wo ich jetzt stehe." Jedenfalls nicht mehr auf den Schanzen dieser Welt. Wobei, überraschend kam der Rücktritt nicht.

Imposante Erfolgsliste

Schlierenzauer hat zweimal den Gesamtweltcup gewonnen, holte 53 Einzelspringen, das ist Weltrekord. Mit dem österreichischen Team siegte er 17 Mal. 2011/12 und 2012/13 war die Vierschanzentournee seine Beute, bei Olympischen Spielen blieb ihm im Einzel Gold verwehrt (zweimal Bronze), mit der Mannschaft klappte es 2010 in Vancouver ganz rauf aufs Stockerl. Er ist sechsfacher Weltmeister und vierfacher Champion im Skifliegen. Seinen letzten Weltcupsieg feierte Schlierenzauer am 6. Dezember 2014 in Lillehammer.

Verletzungen

Es folgten Zeiten der Erfolglosigkeit, gescheiterter Comebackversuche. Nicht zuletzt aufgrund vieler, schwerer Verletzungen. Aber Schlierenzauer wollte es immer wieder wissen. Er flog aus dem Kader, arbeitete privat auf eigene Kosten mit Werner Schuster zusammen. Manchmal schien es, als wäre ein Lichterl am Ende des Tunnels zu sehen. Aber der Schein trog. Er erweiterte seinen Horizont, fotografierte, die Bilder wurden ausgestellt.

Im Dezember 2017, ein Jahr nach einem Kreuzbandriss, hielt Schlierenzauer im STANDARD einen "Sportmonolog". Er sprach sich quasi die Sorgen von der Seele, vermittelte aber doch Optimismus. "Wenn man eine Sinnkrise hat im Leben, steht man gefühlt vor einer großen Wand und weiß nicht, wie man drüber kommt oder wo die Türe ist zum nächsten Raum. Das hab ich erfahren. Es war eine harte Zeit. Für einen jungen Menschen wie mich, der nur eine Seite gekannt hat, den Spitzensport, das Hamsterrad, war es eine Herausforderung, die andere Seite kennenzulernen, ein unter Anführungszeichen normales Leben zu führen. Ich hab mich zum ersten Mal mit wichtigen Fragen auseinandergesetzt: Wer bin ich? Was will ich? Was kann ich? Wo will ich hin? Will ich das überhaupt noch?"

Er wollte weiterhupfen, glaubte nach wie vor an sich, die Faszination des Skispringens ließ ihn nicht los. "Das Schöne am Leben eines Spitzensportlers ist es, tagtäglich aufzuwachen und zu wissen, ich kann heute mein ganzes Potenzial abrufen. Mit meinem Körper, mit meinem Kopf. Mir ist das bewusst geworden, dass das ein Privileg ist. Natürlich gibt es auch andere tolle Berufe, aber ich bin besonders privilegiert. Man springt immer für sich und auch gegen sich."

Suche

Schlierenzauer sprang eher gegen sich. Er suchte verbissen nach dem idealen Sprung, den er als junger Athlet permanent gefunden hatte. Er lechzte nach der Rückkehr der Automatismen. Die vergangene Saison hatte er wegen einer Knieverletzung kurz vor Beginn der WM in Oberstdorf beenden müssen. Er hätte es nicht ins Aufgebot geschafft.

"Bleibt der Moment, in dem man den goldenen Tourneeadler hochhebt, oder bleibt die Erinnerung daran, was man alles dafür getan hat? Definitiv Letzteres. Den Adler, der daheim steht, schaut man natürlich gerne an. Aber nach wenigen Tagen ist er staubig", sagte Schlierenzauer bereits im Dezember 2017.

Entstaubung

Der Rücktritt ist somit auch ein Akt der Entstaubung. Der Tourneeadler glitzert wieder. Über die Zukunftspläne stand nichts Konkretes im Blog. "Mein Feuer, das immer voll und ganz für den Sport brannte, brennt jetzt für neue Aufgaben, die da sind und die auf mich warten. Ich schlage dieses neue Kapitel mit Leidenschaft auf, bin voller Tatendrang und Neugierde."

Natürlich wurde Schlierenzauer vom Verband gewürdigt. Nicht in einem Innsbrucker Prunksaal, nicht in der Hofburg, sondern via Aussendung. Mario Stecher, der sportliche Leiter, sagte: "Gregor hat fürs Skispringen Großartiges geleistet. Seine außergewöhnliche Karriere ist gespickt mit Superlativen. Er hat im Grunde alles erreicht, was es zu erreichen gibt, fast alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt, und es ist auch ihm zu verdanken, dass der Sport heute da steht, wo er ist."

Noch einmal Schlierenzauer: "Ich habe mich weiterentwickelt, nicht als Skispringer, sondern vor allem als Mensch. Darum geht es ja im wahren Leben." (Christian Hackl, 21.9.2021)